Er führt in vierter Generation das älteste Vegi-Restaurant der Welt, schenkt aber auch fröhlich Wein und Bier aus. Er fährt eine alte Harley und bezeichnet sich als gläubigen Christen.
Er wirbelt in Turnschuhen mit roter Sohle durch sein Stammlokal, als wäre die Comicfigur Speedy Gonzales sein Vorbild. Er serviert den Gästen - so das Hiltl-Leitbild - «gesunden Genuss, vegetarisch & vegan in radikaler Frische und hausgemacht».
Auch wenn er im Vorbeigehen einem Gast an den Mantelkragen greift und halblaut «Echtpelz» murmelt, ist dies keine Marotte: Seit zwei Jahren unterstützt Rolf Hiltl die Kampagne des Schweizer Tierschutzes «Tattoos gegen Pelz».
In seinen Hiltl-Club darf nächtens niemand mehr im Echtfell. Er aber verweigert sich keineswegs einem guten Stück Fleisch.
Wie erträgt dieser Mann solche Disparitäten ohne Bauchweh? Ist dieser quirlige Typ ein begnadeter Theatermann, der Tag für Tag das Stück «Cooler Beizer» aufführt? Oder ist er einer, der einfach seinen Horizont weiter spannt als andere und sich dabei dennoch der Lebensfreude nicht verschliessen mag?
Am Anfang stand der Zufall: Rolfs Urgrossvater Ambrosius Hiltl, deutscher Schneidergeselle, kam Ende des 19. Jahrhunderts nach Zürich. Der schwer an Rheuma Erkrankte pflegte im «Vegetarierheim und Abstinenz Café» an der Sihlstrasse einzukehren - dort gab es Champignonsuppe für 13 oder gemischten Salat für 20 Rappen: Extrem bekömmlich für Ambrosius war wohl auch, dass er im Jahre 1903 bei diesem gesunden Restaurant als Geschäftsführer einsteigen, die Köchin Martha Gneupel ehelichen und schliesslich Firma sowie Liegenschaft im Herzen Zürichs übernehmen durfte.
Der ehemals kränkliche Ambrosius Hiltl lebte hernach ein langes, gesundes Leben. Er wurde 92 Jahre alt.
Vier Generationen später hüpft ein fünfjähriger Knirps durch das Lokal - und als ihn sein Vater Heinz Hiltl fragt, was er einmal werden wolle, fährt der Knabe keck seinen kleinen Finger aus, zeigt auf Vaters Bürosessel und sagt ein einziges Wort: «Chef!»
Auf dem Weg zu diesem Ziel legt Rolf Hiltl Spuren, die sich mit der Zeit zum heutigen Gesamtkunstwerk auswachsen - mitsamt allen Widersprüchen.
Kochen hat er im Dolder Grand Hotel gelernt und dabei in den ersten vier Monate nur Kartoffeln geschält. Nach dem eher monotonen Einstieg in den Fünfsternebetrieb und nach Abschluss der Kochlehre auf dem Zürichberg absolviert er die Hotelfachschule in Lausanne.
Dermassen präpariert, ward Rolf Hiltl also auf die Gastronomie losgelassen. Und eines kommt zum anderen. Unter anderem der Alkohol ins Hiltl - weil vegetarische Ernährung und massvoller Promillegenuss gleichermassen Freude bedeuten.
Die Harley kommt vors Haus, weil der Jungchef seit einem Praktikum in Kalifornien Amerika-Fan ist. Und das «Vegi» fliegt aus dem Hiltl-Logo, weil sich Küche und Kundschaft längst von der lustfeindlichen Körnerpickerei in Schafwolle und Birkenstock wegentwickelt haben. Zum Christentum gelangt Rolf Hiltl durch die Sinnsuche seiner Eltern.
«Zunächst bauten sie zu Hause indische Tempel auf und die Familie sass im Schneidersitz drum herum», sagt der Gastronom heute, «als Teenager fand ich das eher skurril.»
Dann probierten Vater und Mutter das Christentum aus und der Sohn sah mit eigenen Augen, «wie sich beide über die Jahre positiv veränderten».
Als Hiltls Vater im Jahr 2001 erst 63-jährig an Krebs verstirbt, ist dies für den Sohn ein Schlüsselerlebnis: Er sitzt auf seiner Harley-Davidson, als er davon erfährt, fühlt, wie sich rechts und links von ihm Abgründe auftun, spürt, dass er nun Verantwortung übernehmen muss und glaubt, dies alles könne kein Zufall sein.
Im Hiltl-Leitbild heisst es heute: «Verantwortlich gegenüber vielfältiger Schöpfung von Mensch, Tier und Natur».
Aus diesem vielschichtigen Biotop wächst der erfolgreiche Geschäftsmann Rolf Hiltl hervor. Heute gibts Hiltl auf der Dachterrasse des PKZ an der Zürcher Bahnhofstrasse oder an der Sihlpost, im Strandbad Mythenquai, als Club, Kochatelier und Vegi-Metzgerei, ja sogar als Globi-Buch («Globi kocht vegi»).
Und dann kommt auch noch das «Projekt V» auf die Welt: Drei Brüder namens Frei gebären Ende der 90er-Jahre die Idee, mit vegetarischem Fast Food ein Gastro-Start-up aus der Taufe zu heben - sie gewinnen damit einen von der ETH Zürich und den Unternehmensberatern von McKinsey gesponserten Wettbewerb.
Als Rolf Hiltl davon hört, kontaktiert er die Jungunternehmer und sie gründen eine gemeinsame Firma. So wird aus einem trockenen Businessplan das blühende Tibits. Das englische «tidbits» heisst so viel wie «Häppchen».
Die Leckerbissen von Hiltl scheinen unwiderstehlich zu sein. Inzwischen gibt es Tibits in London, Hauptstadt der Roastbeef liebenden Engländer, im ehemaligen Büezer-Viertel Zürich-Oerlikon und so, wie die Dinge liegen, ab Herbst 2017 auch im Olma-Bratwurst-Land St. Gallen.
Bald wird sogar die Papet-vaudois-Hochburg Lausanne geknackt, wenn dort, im legendären Bahnhofbuffet, 2018 das erste Tibits ennet des Röstigrabens eröffnet wird. Bei Rolf Hiltl ist Druck auf allen Leitungen. Wer also der Ansicht ist, das aktuell verschärft durchgesetzte Pelzverbot im Hiltl Club an der Zürcher St. Annagasse sei nichts weiter als ein Marketinggag, verkennt diesen Mann, der - solange es Erfolg verspricht - einfach tut, was er für sinnvoll hält, und was ihm gefällt.
Und seis die Erfüllung eines letzten unternehmerischen Traums. Kürzlich stand er vor seinem Lokal in Zürich, schloss die Augen, sah im Geiste gelb lackierte Taxis vorbeifahren und wähnte sich in seiner Lieblingsstadt New York. Er sah ein Hiltl am Hudson ...