Oligarch Viktor Vekselberg über seine Familiengeschichte
«Mein Vater wollte mich vor Antisemitismus schützen»

Der russische Oligarch Viktor Vekselberg (62) erzählt, wie die Ermordung seiner jüdischen Verwandten sein Leben geprägt hat. Und er spricht über seine aktuellen Probleme: die Sanktionen, welche die USA gegen ihn verhängt haben.
Publiziert: 01.02.2020 um 23:52 Uhr
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Aktualisiert: 02.02.2020 um 16:53 Uhr
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Viktor Vekselberg auf der Veranda seines Büros in Zürich.
Foto: STEFAN BOHRER
Christian Dorer (Interview) und Stefan Bohrer (Fotos)

«Treten Sie einen Schritt nach vorne», bittet Viktor Vekselberg – gemäss einem russischen Bonmot bringe es Unglück, wenn man sich unter dem Türrahmen die Hand reiche. Wir begrüssen uns in einem Büro in Zürich, der russische Oligarch, der seit 15 Jahren in der Schweiz wohnt, gibt SonntagsBlick eines seiner höchst seltenen Interviews. Wir sprechen über seine tragische Familiengeschichte: Die Nazis ermordeten vor 75 Jahren 17 seiner jüdischen Verwandten.

Herr Vekselberg, Sie engagieren sich dafür, dass die Gräueltaten des Holocaust nicht vergessen gehen. Warum?
Viktor Vekselberg: Fast alle Verwandten meines Vaters wurden im Holocaust umgebracht, aber ich wusste lange nicht, wie es dazu kam.

Wie kam das?
Mein Vater war Jude, ich habe jüdisches Blut. Bis zu meinem Studium in Moskau wohnte ich mit meinen Eltern in Drohobytsch im Westen der Ukraine. Von Zeit zu Zeit bat ich meinen Vater, mir über das Schicksal meiner Grossmutter, meines Grossvaters, meines Onkels und meiner Tante zu erzählen. Aber er antwortete immer sehr kurz angebunden: Sie seien im Krieg gestorben. Mehr wollte er nicht in die Details gehen.

Wie haben Sie schliesslich die Wahrheit erfahren?
Viel später, ich lebte damals längst in Moskau. Da erst erzählte es mir mein Vater: Als die Nazis sich zurückzogen, haben sie alle seine Verwandten, 17 Familienangehörige, gemeinsam mit mehr als 12’000 weiteren Juden, die während der deutschen Besatzung in Drohobytsch lebten, in einem Wald nahe der Stadt zusammengetrieben und erschossen.

Wie haben Sie reagiert?
Das war ein Schock für mich. Ich konnte nicht verstehen, warum mein Vater mir nicht schon früher davon erzählt hatte, warum wir die Massengräber, in denen sie ruhten, nicht besucht haben. Mein Vater antwortete, er hätte mich vor Antisemitismus schützen wollen. Ich kann das bis heute nicht voll verstehen. Auch wenn ich natürlich sehe, dass Antisemitismus in der Ukraine sehr präsent war und bis heute ist.

Wie äussert sich das?
Alle Verwandten meines Vaters sind gestorben, bis auf eine Cousine. Sie überlebte, weil eine ukrainische Familie sie während des Krieges im Keller versteckte – vier Jahre lang! Nachdem die Rote Armee unsere Stadt befreit hatte, schaffte sie es, in die USA zu emigrieren. Dort habe ich sie in den 1990er-Jahren aufgestöbert und meinen Vater in die USA gebracht. Dort bot ich ihr an, sie nach Hause in die Ukraine zu bringen, um die Menschen zu treffen, die sie gerettet hatten. Da sah ich den Horror in ihren Augen und sie sagte: «Niemals werde ich dorthin zurückkehren!» Sie arbeitete als Musiklehrerin und verdiente wenig. Trotzdem liess sie der Familie so viel wie möglich – 50 bis 100 Dollar – zukommen. Ich spürte dann die Nachkommen dieser Familie auf, die meiner Tante beim Überleben geholfen hatte, und bot substanziellere Hilfe an. Sie akzeptierten diese, baten aber, niemandem zu erzählen, dass ihre Eltern während des Krieges eine Jüdin versteckt hatten. So haben die Nachbarn auch Jahrzehnte später nichts davon erfahren – so stark ist der Antisemitismus dort immer noch!

Was kann die Gesellschaft gegen Antisemitismus tun?
Persönlich tue ich alles, um ihn wie auch irgendwelche Formen von Fremdenfeindlichkeit zu bekämpfen. Als Vorstandsvorsitzender des Jüdischen Museums in Moskau engagiere ich mich für verschiedene jüdische Projekte sowohl in Russland als auch im Ausland. In meiner Heimatstadt in der Ukraine, in demjenigen Wald, in dem meine Angehörigen und Tausende andere Menschen erschossen wurden, habe ich ein Denkmal errichten lassen. Wir haben die Suche nach den Namen der Toten organisiert, sodass ihr Andenken verewigt wurde und deren Verwandte und Freunde ihre Gräber besuchen können. Noch zu Lebzeiten meines Vaters haben wir gemeinsam die Synagoge in Drohobytsch restaurieren lassen. Es ist eine der grössten Synagogen in Osteuropa und die Arbeiten dauerten mehr als drei Jahre. An der Eröffnung haben viele Menschen nicht nur aus der Region, sondern aus der ganzen Ukraine und anderen Ländern teilgenommen. Leider konnte ich selbst nicht präsent sein, da nach den USA auch die Ukraine Sanktionen gegen mich verhängt hat.

Sie stehen seit Anfang 2018 auf der Sanktionsliste der USA. Was ist der Grund?
Ich stelle mir diese Frage seit zwei Jahren! Und habe leider keine Antwort gefunden. Ich halte die Sanktionen für unbegründet und ungerecht. Sie spiegeln offensichtlich die schlechten Beziehungen zwischen den USA und Russland wider, aber warum sie mich persönlich betreffen, kann ich nicht verstehen.

Warum schafften es Ihre Anwälte nicht, Sie aus der Sanktionsliste zu entfernen?
Meine Anwälte haben vor einem Jahr beim US-Finanzministerium ein Gesuch gestellt. Obwohl seither ein Jahr vergangen ist, hat sich die Situation nicht geändert. Aber ich bin zurückhaltend optimistisch, dass das Problem früher oder später gelöst wird.

Wie viel Geld haben Sie durch die Sanktionen verloren?
Die finanziellen Konsequenzen sind spürbar. Ich musste Beteiligungen auf unter 50 Prozent senken, etwa bei Sulzer und Octo in Italien. Aber dennoch, wie Mark Twain einmal sagte, «die Berichte über meinen Tod sind stark übertrieben».

Leben Ihre beiden Kinder noch immer in den USA?
Mein Sohn hat die Universität Yale absolviert, meine Tochter machte einen MBA. Die Grosskinder gehen in New York in die amerikanische Schule. Umso schmerzhafter sind die Sanktionen für meine Familie.

Wie organisiert sich Ihre Familie?
Ich darf nicht in die USA reisen. Unsere Familientreffen finden deshalb in der Schweiz oder in Russland statt. Wir sehen uns während Ferien oder an Wochenenden.

Spüren Sie, dass Menschen Sie wegen der Sanktionen meiden?
Es gibt Geschäftspartner, die den Kontakt eingefroren haben. Sie haben Angst, dass ihnen auch Sanktionen drohen. Bei den persönlichen Beziehungen verhält es sich gerade umgekehrt: Meine Freunde und Partner aus den philanthropischen und kulturellen Projekten, auch hier in der Schweiz, halten erst recht zu mir. Gerne nutze ich die Gelegenheit und spreche ihnen dafür meinen Dank aus.

Es gibt immer wieder Spekulationen, wie nahe Sie Präsident Putin stehen. Wie gut kennen Sie ihn wirklich?
Wir gehören der gleichen Generation an und wie viele andere grosse Unternehmer kenne ich ihn seit fast zwanzig Jahren. Aber wir hatten nur wenige Einzelgespräche – das letzte Mal, dass ich Präsident Putin unter vier Augen getroffen habe, war vor knapp drei Jahren. Aber zwei-, dreimal pro Jahr trifft er eine grössere Zahl von Vertretern aus der Wirtschaft, auch da bin ich regelmässig dabei. Also, ich glaube, er erkennt mich in der Menge (lacht).

Was ist die Idee hinter Putins Staatsreform?
Das war für alle eine Überraschung, auch für mich. Wie ich es verstehe, hat der Präsident dem Parlament mehr Befugnisse zugebilligt. Und das ist gut so.

Ist es nicht vor allem ein Mittel zum Machterhalt Putins?
Die Stärkung der Legislative und eine gewisse Einschränkung der Befugnisse der Exekutive, welche sich daraus ergibt, sind für mein Demokratieverständnis auf alle Fälle positiv.

Sie stehen an der Spitze des Innovationsparks Skolkowo, dem Silicon Valley Russlands. Wie läuft dieser derzeit?
Das Projekt ist sehr wichtig für die Zukunft des Landes. Ich engagiere mich hier seit zehn Jahren unentgeltlich. Skolkowo wurde gegründet, um Hightech-Start-ups zu unterstützen, Bildung und Forschung zu entwickeln und ein Umfeld zu schaffen, in dem innovative Technologien geboren werden. Skolkowo unterstützt diese mit moderner Technologie. Wir kooperieren mit den besten Hochschulen der Welt: dem MIT oder der ETH Zürich. Dies ist ein sehr wichtiges Projekt für Russland – und nicht nur für Russland, da es eine Art technologischer Hub ist, der russische Unternehmen mit dem Rest der Welt verbindet und umgekehrt. Glücklicherweise funktioniert das trotz der Sanktionen gegen Russland.

Würde es Ihre Probleme lösen, wenn US-Präsident Trump im November nicht wiedergewählt würde?
Viel von dem, was heute in den USA geschieht, überrascht mich sehr, halte ich doch viel von den Prinzipien der Gründerväter: Demokratie, freie Meinungsäusserung, Eigentumsrecht, Offenheit für die internationale Zusammenarbeit, gesunder Menschenverstand. Aber ich finde auch, dass das amerikanische Volk selbst entscheiden soll, wer sein Präsident sein wird.

Was tut die Schweiz für Sie?
Ich bin der Schweizer Regierung sehr dankbar, dass ich die Gelegenheit hatte, mit ihr meine Situation zu diskutieren. Leider ist die Regierung nicht in der Position, dieses Problem zu lösen. Das Schweizer Finanz- und Bankensystem und auch die Schweizer Unternehmen, darunter auch diejenigen, an denen wir beteiligt sind, sind von den Entscheidungen in den USA abhängig. Früher glaubte ich, dass Schweizer Unternehmen unabhängig von Drittstaaten sind. Das war leider ein Irrtum. Insbesondere das Banksystem ist sehr abhängig von Entscheidungen der USA.

Was sind die Folgen?
Ich bin seit fast 15 Jahren in Schweizer Unternehmen investiert und ich habe immer die Strategie unterstützt, in ihren Branchen zu den weltweit führenden zu gehören. Die Sanktionen gegen mich schaden allen, leider auch anderen Aktionären, weil der Wert dieser Unternehmen gesunken ist und es für sie schwieriger geworden ist, Geschäfte zu machen.

Gehen Jobs verloren?
Ich hoffe nicht, aber das Risiko besteht noch. In Italien haben wir es jetzt grad erlebt: Eine ziemlich grosse Gesellschaft musste liquidiert werden, als direkte Konsequenz der Sanktionen, weil die Banken die Zusammenarbeit gestoppt haben.

In der Schweiz hatten Sie eine Auseinandersetzung mit Amag-Besitzer Martin Haefner um die Stahlfirma Schmolz + Bickenbach.
Diesen Konflikt hätte man vermeiden können, da ich die Führung von Schmolz + Bickenbach nicht kontrolliere und auch nicht daran beteiligt bin. Am Schluss verlieren bei einem Streit alle: die Mehrheitsaktionäre, die Minderheitsaktionäre und die Gesellschaft selber. Zum Glück haben wir eine Lösung gefunden.

Herr Haefner bezeichnete Sie als «Phantom». Hat Sie das verletzt?
Das hat mich nicht verletzt, eher überrascht. Wir kennen uns seit langem. Ich hoffe, dass ich für ihn kein Mysterium mehr bin.

Werden Sie wieder mehr in der Schweiz investieren, wenn die Sanktionen aufgehoben sind?
Dann ist alles möglich. Leider müssen wir derzeit pausieren.

Vor 15 Jahren dachten alle, Sie kämen als Spekulant in die Schweiz.
Ich habe immer gesagt, ich sei ein langfristiger Investor. Viele glaubten mir nicht. Aber unsere Taten und Ergebnisse sind der beste Beweis. Was wir versprochen haben, haben wir gehalten. Inzwischen sehen alle – so hoffe ich –, dass ich langfristig investiere.

Sie könnten überall in der Welt investieren. Was macht gerade die Schweiz so attraktiv?
Einst hatte ich für meinen Hauptsitz London und Zürich zur Auswahl. Viele russische Investoren entschieden sich für London, ich für Zürich. Es gibt hier Rechtssicherheit, ein weit entwickeltes Finanzsystem und eine gute Infrastruktur. Die Lebensbedingungen sind gut, die internationalen Schulen hervorragend. Zürich hat viele Events mit Weltniveau, Kultur, Museen, Ausstellungen und nicht zuletzt liebe ich die Berge und das Skifahren.

Wollen Sie sich eines Tages einbürgern lassen?
Ich wohne schon lange hier und zahle hier auch schon lange Steuern. Aber um ein richtiger Bürger zu werden, muss man unter anderem die Sprache beherrschen. Das ist nicht leicht, aber ich arbeite langsam daran.

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