Hinter ihm liegen bewegte Jahre: «Ich habe viel Scheisse gebaut in meinem Leben», sagt Paul Müller* (55), als er sich mit SonntagsBlick zum Kaffee trifft. Mit 18 nahm er das erste Mal Drogen, kam über Jahre nicht von der Spritze weg, versank in der Zürcher Fixerszene.
Müller redet nicht gern über seine Geschichte, Details gibt er nur auf Nachfrage preis. Doch die Furchen in seinem Gesicht, seine rauen Hände, der leicht schüchterne Blick sprechen Bände. Nur etwas verrät der gelernte Mechaniker von sich aus: «Trotz allem habe ich 30 Jahre lang immer gearbeitet!»
Vor drei Jahren schafft Müller den Ausstieg. Er absolviert erfolgreich ein Methadonprogramm. Heute ist er clean. Doch die Vergangenheit lässt sich nicht so einfach abschütteln: Müller ist mit Hepatitis C infiziert.
«Eine Therapie, mit der 98 von 100 Leuten geheilt werden, hat bei mir nicht funktioniert», erzählt er. Inzwischen gebe es zwar ein neues Medikament, bei dem die Heilungschancen noch besser seien. «Doch Sanitas, meine Krankenkasse, will diese Therapie nicht bezahlen.»
Es geht um Vosevi, ein Medikament des US-Pharmakonzerns Gilead. Kostenpunkt: 6 0 000 bis 7 0 000 Franken. Das Schweizerische Heilmittelinstitut Swissmedic schätzt die zwölfwöchige Behandlung als sehr wirksam ein, deshalb ist Vosevi in der Schweiz als Zweittherapie für Hepatitis-C-Patienten zugelassen. Weil sich das Bundesamt für Gesundheit und Gilead bisher jedoch nicht auf einen Preis einigen konnten, steht es nicht auf der Medikamentenliste des Bundes – und muss deshalb von den Krankenkassen nicht bezahlt werden.
«Ich erhielt jedes Mal eine Absage, die wissenschaftlich nicht begründet war»
Damit Müller nicht Opfer des Gesundheitssystems wird, hat seine Ärztin Anna Conen bei Sanitas um eine spezielle Kostengutsprache ersucht. «Das beantragte Medikament ist das einzige, das für meinen Patienten momentan zur Verfügung steht», so die leitende Ärztin am Kantonsspital Aarau.
Im April 2018 stellt Conen das erste Gesuch. «Alles wissenschaftlich fundiert, mit Literatur hinterlegt.» Sanitas lehnt ab. Im Mai 2018 versucht sie es erneut. Wieder sagt die Kasse ab. Begründung: «Aufgrund der vorliegenden Informationen lässt sich kein prospektiver Nutzen für die geplante Therapie erwarten und eine Kostenübernahme ist ausgeschlossen.»
Conen kann es kaum glauben: «Das habe ich so noch nie erlebt. Ich erhielt jedes Mal eine Absage, die wissenschaftlich nicht begründet war. Mit dem Vertrauensarzt zu telefonieren, war auch nicht möglich. Sanitas überliess meinen Patienten seinem Schicksal.»
Kritik kommt auch von Philip Bruggmann (48), Präsident von Hepatitis Schweiz: «Bei Personen, die auf die heutigen Therapien nicht ansprechen, handelt es sich fast immer um Patienten mit fortgeschrittenem Leberschaden. Hier drohen bei nicht sofortiger Zweitbehandlung schwerwiegende Konsequenzen, sowohl für die betroffene Person als auch für den Kostenträger.» Bei fortgeschrittenen Schäden oder Leberkrebs sei Transplantation häufig die einzige Therapieoption. «Von daher ist das Verweigern einer vom Spezialisten beantragten Zweitbehandlung für mich als Arzt unverständlich.»
Für Paul Müller ist das zermürbend: Er weiss, was er hat und was ihm helfen könnte – aber es geschieht nichts: «Als ob ich einen Schwimmring habe und trotzdem versaufe!» In der Schweiz fordert Hepatitis C pro Jahr rund 200 Todesopfer. Für Müller ist klar: «Im schlimmsten Fall nimmt Sanitas in Kauf, dass ich sterbe.»
Die Krankenkasse sieht das anders: «Uns ist das Kundenwohl ganz allgemein und selbstverständlich auch das Wohl von Herrn Müller ein sehr wichtiges Anliegen», so Sprecher Christian Kuhn. Sanitas lehne keine Therapie aus reinen Kostenüberlegungen ab – auch nicht Vosevi. Kürzlich habe man zum Beispiel einem Patienten eine neue Form der Krebstherapie bezahlt, die mehr als hunderttausend Franken gekostet habe.
Müller darf hoffen
Kuhn: «Alle Kostengutsprachegesuche werden als Einzelfälle durch unsere Spezialisten und Vertrauensärzte geprüft.» Im Falle von Paul Müller sei man aber aufgrund fehlender aussagekräftiger Studien damals zu der Einschätzung gekommen, dass von Vosevi «kein grosser therapeutischer Nutzen» erwartet werden könne.
Noch Mitte Juni 2019 hielt Sanitas in einem Artikel des Gesundheitsportals «Healthy Ageing Forum Schweiz» eisern an diesem Urteil fest. Nun aber macht die Krankenkasse Paul Müller plötzlich Hoffnung: «Vor rund zwei Wochen hat ein Treffen mit Spezialisten auf dem Gebiet von Hepatitis-C-Zweittherapien stattgefunden und es wurden uns die aktuellsten wissenschaftlichen Daten vorgestellt.»
Diese Erkenntnisse seien neu, sie stammten zum Teil aus noch nicht publizierten Studien: «Aktuell beurteilt Sanitas deshalb Herrn Müllers Fall erneut und steht in Kontakt mit der Firma Gilead, um eine für alle Beteiligten gute Lösung zu finden.» Die Kasse geht davon aus, dass diese Verhandlungen sehr rasch abgeschlossen werden können – und dass Paul Müller die Behandlung mit Vosevi demnächst starten könne.
Müller erfährt erst durch SonntagsBlick von der sich anbahnenden Wende. Euphorisch wird er deshalb aber nicht: «Ich glaube es erst, wenn es so weit ist!»
*Name geändert
In der Schweiz sind etwa 40'000 Personen mit Hepatitis C infiziert. Pro Jahr sterben rund 200 Menschen an den Folgen der Krankheit. Die öffentliche Aufmerksamkeit ist dennoch gering. Die WHO spricht deshalb von einer «stillen Epidemie». Da der Krankheitserreger in erster Linie durch Blut einer infizierten Person übertragen wird, besteht die Gefahr einer Infektion unter anderem beim gemeinsamen Gebrauch von Injektionsspritzen und Inhalationsröhrchen. Bei 25 Prozent der Betroffenen entwickelt sich eine Leberzirrhose, eine Vernarbung der Leber. Es besteht ein erhöhtes Risiko für Leberkrebs. Eine chronische Hepatitis C ist der häufigste Grund für eine Lebertransplantation.
Weitere Informationen zu Hepatitis C finden sie unter: www.hepatitis-schweiz.ch
In der Schweiz sind etwa 40'000 Personen mit Hepatitis C infiziert. Pro Jahr sterben rund 200 Menschen an den Folgen der Krankheit. Die öffentliche Aufmerksamkeit ist dennoch gering. Die WHO spricht deshalb von einer «stillen Epidemie». Da der Krankheitserreger in erster Linie durch Blut einer infizierten Person übertragen wird, besteht die Gefahr einer Infektion unter anderem beim gemeinsamen Gebrauch von Injektionsspritzen und Inhalationsröhrchen. Bei 25 Prozent der Betroffenen entwickelt sich eine Leberzirrhose, eine Vernarbung der Leber. Es besteht ein erhöhtes Risiko für Leberkrebs. Eine chronische Hepatitis C ist der häufigste Grund für eine Lebertransplantation.
Weitere Informationen zu Hepatitis C finden sie unter: www.hepatitis-schweiz.ch