Sein Gesicht kennt man nicht, aber seinen Nachnamen. Zumindest alle, die in den vergangenen 30 Jahren irgendwo in der Schweiz Wirtschaft studiert haben. Er hat die rund 1000-seitige Bibel der Betriebswirtschaftslehre (BWL) geschrieben. Mit gegen 300'000 verkauften Exemplaren das erfolgreichste Schweizer Wirtschaftslehrbuch aller Zeiten. Unter Lesern wird es schlicht «Der Thommen» genannt.
Darin ist alles enthalten, von den möglichen Rechtsformen von Unternehmen über die Optimierung ihrer Finanzierung, die marktorientierte Unternehmensbewertung, das Vermarkten von Produkten bis zur Auftragsabwicklung und vielem mehr.
Wir treffen Professor Jean-Paul Thommen (66) in seinem Büro beim Merkurplatz in Zürich. Vor einer kleinen Bücherwand mit vielen weiteren seiner Werke nimmt er Platz und erzählt, wie der Zufall dazu führte, dass er ein Standardwerk der BWL schon in jungen Jahren schreiben konnte.
Können Sie sich den Erfolg Ihres Lehrbuchs erklären, das erstmals 1986 erschienen ist?
Jean-Paul Thommen: Damals gab es noch kein Buch über die Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, das auf schweizerische Verhältnisse ausgerichtet gewesen wäre.
Dann haben Sie also diese Marktlücke gesehen und ausgenutzt.
Nein, ich wollte gar nie ein Buch schreiben. Es ist ja oft so, dass wirtschaftlicher Erfolg nicht unbedingt etwas mit Vision oder Planung zu tun hat. Es war ein reiner Zufall, dass ich das Buch geschrieben habe. Ich bin schon durch Zufall Assistent eines Professors geworden.
Der Zufall kann freundlich sein.
Ja, ich hatte nach dem Studium eigentlich schon eine Stelle bei der SKA, der heutigen Credit Suisse. Ich wäre dort für die bankinterne Lehrlingsausbildung in Betriebswirtschaftslehre verantwortlich gewesen. Den Arbeitsvertrag hatte ich schon vor meiner letzten Uniprüfung unterschrieben.
Etwas vorschnell.
Es war eine mündliche Prüfung, und ich kam anschliessend mit dem Professor ins Gespräch, erzählte, dass ich noch die Handelslehrerausbildung machen wolle. Er sagte, er suche genau so jemanden wie mich, denn er wolle seine BWL-Vorlesung neu gestalten, den didaktischen Aufbau und die Unterlagen dazu.
Dann also nicht zur SKA.
Nein, ich dachte mir, ich könnte dann immer noch später zur SKA.
Als Assistent an der Uni haben Sie die Lehrveranstaltung Betriebswirtschaftslehre didaktisch neu aufgebaut.
Ja, mein Konzept war es, aus allen Spezialgebieten, aus allen Fachbüchern das Beste zu nehmen. Im Fachgebiet «Finanzierung» war das damals der «Boemle», im Marketing der «Meffert». Ich war sehr stolz auf das, was ich da zusammengesucht hatte, die Besten der Besten in einem Ordner für die Vorlesung.
Jetzt kommt ein Aber ...
Aber, das hat natürlich nicht funktioniert, denn jeder dieser Besten hatte seinen eigenen Ansatz. Zum Teil gab es Überschneidungen, teilweise stimmten die Begriffe nicht überein. Didaktisch war es nicht gut. Also entschieden wir, es selber zu schreiben.
«Wir» heisst, der Assistent schreibt.
Ja, ich bekam dann auch Freude am Schreiben. Im Ordner für die Vorlesung wurden nach und nach alle Kapitel durch selbst Erarbeitetes ersetzt.
Es war also noch kein Buch, sondern ein Ordner mit Vorlesungsunterlagen.
Ja, als Oberassistent bin ich dann in ein Forschungsjahr in die USA, nach Berkeley. Meine Frau kam mit, konnte dort aber nicht arbeiten und besuchte Kurse in Publishing. Sie fragte mich, warum ich das nicht als Buch herausgebe.
Was sagte der Professor dazu?
Er war sehr grosszügig. Er verlangte nicht mal, dass sein Name auf dem Buch erwähnt würde, sondern ich konnte das Buch vollständig unter meinem Namen publizieren.
So kam es, dass das Buch der «Thommen» genannt wird.
Meine Frau und ich brachten das Buch im Eigenverlag heraus. Wir liessen 2000 Bücher drucken. Die sind eines Tages bei uns zu Hause angekommen, zwei Paletten voll, die haben wir dann im Estrich platziert.
Das wurde aber bald professioneller.
Ja, ich habe an einigen Schulen unterrichtet, so hat das Buch relativ rasch Verbreitung gefunden.
Tausende haben Ihre Bücher gelesen und sind heute in höheren Positionen tätig.
Ja, sehen sie, kein Wunder, dass es der Schweizer Wirtschaft heute so gut geht (lacht). Nein, ich denke nicht, dass das Buch einen so grossen Einfluss hatte. Soweit ich höre, nutzen es viele Führungskräfte heute als Nachschlagewerk.
Würden Sie das Buch heute anders schreiben?
Ich habe es immer aktualisiert, es sind immer wieder neue Themen eingeflossen, etwa die Digitalisierung.
Aber wenn Sie nochmals ganz neu beginnen könnten?
Vor 30 Jahren – und zum Teil auch noch heute – beruhte die BWL auf einem sehr mechanistischen Modell. Dieses hat viele Stellschrauben, die isoliert betrachtet werden: Strategie, Marketing und Personal etc. Wenn man diese erkennt und richtig einstellt, dann funktioniert es.
So die Vorstellung.
In der Realität funktioniert es nicht so. Die Welt ist viel dynamischer und komplexer – alles ist in ständiger Veränderung und alles hängt mit allem zusammen.
Was tun Sie heute?
Ich habe mich auf Leadership und Coaching spezialisiert, unterrichte dazu auch einen Lehrgang. Und schreibe natürlich neue Bücher zu aktuellen Themen!
Worum geht es da?
Ein wichtiger Aspekt dabei ist Reflexion.
Über sich selber und sein Tun nachdenken.
Unser Handeln ist bestimmt durch Hypothesen. Jeder Praktiker hat eine Theorie. Er merkt es einfach nicht. Er sagt, dass es ja Erfahrung sei. Aber was ist Erfahrung? Es sind Hypothesen!
Ohne Hypothesen sind Menschen nicht handlungsfähig.
Ja, aber Hypothesen haben ein Verfalldatum. Gerade in der Wirtschaft. Und deshalb muss man diese Hypothesen immer wieder reflektieren, um zu überprüfen, ob sie noch gültig sind.
Gut, also müssen die Hypothesen überprüft und verändert werden.
Veränderung bedeutet immer auch Kulturveränderung.
Da fällt mir spontan die Bonuskultur der Banken ein.
Die ist eigentlich noch immer die gleiche, obwohl sie so verpönt ist.
Banker beklagen sich oft, dass sie so wenig Ansehen geniessen.
Dann muss ich sagen, verändert mal eure Kultur. Ohne zu werten, ob die Bonuskultur gut oder schlecht ist.
Veränderung ist immer schwierig.
Man sieht schon, wie schwierig Veränderung auf individueller Ebene ist, etwa abzunehmen, aufzuhören zu rauchen. Veränderung von ganzen Organisationen ist noch schwieriger.
Jean-Paul Thommen unterrichtet an verschiedenen Universitäten und Fachhochschulen. Neben seinem Standardwerk hat er eine Vielzahl weiterer Bücher veröffentlicht. In jüngerer Vergangenheit etwa Titel wie: «Irrgarten des Managements» und «Spurenwechsel – Das Reflexions- und Notizbuch für erfolgreiches Handeln».
Jean-Paul Thommen unterrichtet an verschiedenen Universitäten und Fachhochschulen. Neben seinem Standardwerk hat er eine Vielzahl weiterer Bücher veröffentlicht. In jüngerer Vergangenheit etwa Titel wie: «Irrgarten des Managements» und «Spurenwechsel – Das Reflexions- und Notizbuch für erfolgreiches Handeln».