Die Lehre geniesst in der Schweiz höchstes Ansehen. Zu Recht, denn Jugendliche lernen früh, was es braucht, um in der Berufswelt zu bestehen. Die Betriebe wiederum können den Nachwuchs nach den eigenen Bedürfnissen formen.
Doch um die Lehre erfolgreich abzuschliessen, braucht es heute längst viel mehr als geschickte Hände. Eine Umfrage von SonntagsBlick bei Nachhilfe-Instituten zeigt: Immer mehr Lehrlinge nehmen Nachhilfe in Anspruch, um den Schulstoff zu meistern.
Die Antworten sind eindeutig: «Die Zahl der Nachhilfe suchenden Lehrlinge ist stark gestiegen. Seit 2015 hat sie sich mehr als verdoppelt», schreibt Ghena Nikolaeva, Marketing-Verantwortliche beim Netzwerk Tutor24.ch.
Beat Wernli, geschäftsführender Inhaber vom Nachhilfezentrum Impuls, sagt: «Die Nachfrage nach Nachhilfe entwickelt sich sehr positiv. Vor allem auch bei Lehrlingen.» Ähnlich klingt es bei weiteren angefragten Instituten.
Vor allem für die technischen Fächer suchen die Stifte Unterstützung – und sind auch bereit, dafür zu bezahlen. «In 39 Prozent der Nachhilfeanfragen von Lehrlingen ist Mathematik mit dabei. In 16 Prozent Rechnungswesen», heisst es bei Tutor24. Weniger hoch im Kurs seien dafür Sprachen: Deutsch und Englisch würden von Lehrlingen unterdurchschnittlich nachgefragt.
Nachhilfe ist im Trend
Für die Entwicklung gibt es mehrere Gründe. Erstens: Nachhilfe ist im Trend, nicht nur schwache Schüler greifen darauf zurück. «Nachhilfe wird nicht nur zum Überleben bezogen», sagt Tutor24-Sprecherin Ghena Nikolaeva.
Zweitens: Die Erwartungen an die Lehrlinge werden höher und höher. Vor allem in der Schule. «Die schulischen Anforderungen in der Lehre sind in den letzten Jahren sicher gestiegen», sagt Beat Wernli. Nur ein Beispiel ist das Fach Rechnungswesen. «Es scheinen schwierigere Themen hinzugekommen zu sein», heisst es dazu bei Tutor24.ch.
Das lässt aufhorchen! Ist die Lehre, deren Stärke die Praxis ist, zu verkopft? KV- Schweiz-Sprecherin Kathrin Gasser räumt ein: «Die Arbeitswelt verändert sich, deshalb muss sich auch die Lehre laufend verändern.» Die schulischen Inhalte sollten aber «anschlussfähig» sein, wenn die Lehrlinge aus der Sekundarschule kommen. «Das ist immer ein Ausbalancieren.»
Bei Swissmem – dem Verband für die Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie, gibt man zu bedenken: «Unterschiedliche Lehrpläne in den Volksschulen führen zu grossen Niveauunterschieden beim Übertritt in Berufsfachschulen.» Darauf liessen sich schulische Schwierigkeiten zurückführen. Zudem gehörten technische Berufe zu den anspruchsvollsten Berufslehren.
Die Digitalisierung verlangt viel ab
Sogar beim Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) in Bern heisst es: «Die Digitalisierung führt zu veränderten Produk-tionsprozessen. Diese Veränderungen stellen neue Anforderungen an Arbeitskräfte.» Dass es unter Lehrlingen einen Nachhilfe-Boom gibt, will keine der offiziellen Stellen bestätigen.
Die Bundesstelle weist aber darauf hin: Wem das Lernen nicht liegt, muss den Kopf nicht hängen lassen. Die zweijährige EBA-Lehre sei für «vorwiegend praktisch Begabte» gedacht. Auch KV Schweiz betont: «In der kaufmännischen Lehre bestehen verschiedene Profile, die sich im Schulischen unterscheiden.»
Im Kanton Zürich bieten die Berufsschulen ausserdem obligatorische Stützkurse an. «Die haben sich bewährt und sind etabliert», sagt Hans-Jörg Höhener, Vizechef beim Mittelschul- und Berufsbildungsamt. Er könne deshalb nicht bestätigen, dass Lehrlinge auf Nachhilfe angewiesen seien.
Wie dem auch sei: Laut der Lehrstellenbörse Yousty bleiben dieses Jahr in der Schweiz 8900 Lehrstellen unbesetzt. Wenn in der Lehre der Schulstoff überhandnimmt, verschwimmen die Unterschiede zum Gymnasium. Dann dürften sich noch mehr junge Menschen für den akademischen Weg entscheiden. Freuen tun sich dann nur die Nachhilfe-Institute.