Immer wieder verlagern Schweizer Firmen Jobs ins Ausland. Auch Sie als Verwaltungsratspräsident von Reichle & De-Massari haben da einschlägige Erfahrungen. Wie schwer fällt so ein Entscheid?
Hans Hess: Das ist schwierig, gerade auch für ein Familienunternehmen, das mit dem Standort Schweiz eng verbunden ist. Wenn man aber in die Verlustzone gerät, muss vor allem sichergestellt werden, das die Firma überlebt.
Also verschiebt man einfach Arbeitsplätze ins Ausland?
Nein, ganz so einfach ist das nicht! Wir haben bei R&M die Produktion in der Schweiz automatisiert, so weit es ging. Die nicht automatisierbare Handarbeit aber war hier zu teuer und musste nach Bulgarien ausgelagert werden. Dort haben wir 250 neue Jobs geschaffen. Natürlich hätten wir die gerne in der Schweiz aufgebaut, aber das konnten wir uns aus Kostengründen schlicht nicht leisten.
Wie viele Stellen hat das R&M in der Schweiz gekostet?
Rund 50 Stellen oder etwa 15 Prozent der damaligen Belegschaft in der Schweiz. Das Problem ist nicht einmal so sehr der Abbau – auch wenn das natürlich immer schmerzt. Die Schwierigkeit ist vielmehr, dass der Aufbau von Jobs kaum mehr in der Schweiz stattfindet. Aber weil wir durch die Produktion in Bulgarien wieder konkurrenzfähig geworden sind, können wir nun sogar wieder neue Stellen hier in Wetzikon schaffen, in der Regel höher qualifizierte Stellen als früher.
Wie lange wird die Auslagerungswelle noch durch unsere Industrie rollen?
Dieser Trend, weltweit zu expandieren, hat nicht nur mit den Kosten in der Schweiz zu tun, sondern auch damit, dass man heute näher bei den internationalen Kunden sein muss. Seit der Aufhebung des Mindestkurses gingen in der Schweizer Indus-trie rund 13000 Stellen verloren. Dies ist ein schmerzlicher Strukturwandel, aber nicht der Untergang der Maschinenindustrie!
Also droht der Schweiz nicht die Deindustrialisierung?
Nein, ich bin fest überzeugt davon, dass es gar keine Deindustrialisierung gibt! Ich stehe jeden Morgen auf und setze mich dafür ein, dass der Werkplatz auch in Zukunft ein wichtiger Pfeiler der Schweizer Wirtschaft bleibt.
So viel Kampfeswillen ist man von Wirtschaftsfunktionären gar nicht gewohnt. Was treibt Sie an?
(Lacht) Ich verspüre eine gewisse Leidenschaft für den Werkplatz Schweiz. Als junger Manager habe ich in den 80er- und 90er-Jahren erlebt, wie das Topmanagement und die Verwaltungsräte das Vertrauen in die Schweizer Industrie verloren haben. Viele Geschäfte wurden damals aufgegeben, Zehntausende Stellen abgebaut. Das ging mir gehörig gegen den Strich. Heute ist die Kampfbereitschaft für den Werkplatz Schweiz viel grösser. Die Unternehmer wehren sich zusammen mit ihren Leuten; sie sind bereit, grosse Anstrengungen zu machen, um die Firmen fit zu machen und die Jobs in der Schweiz zu behalten.
Hilft die Digitalisierung beim Kampf um den Werkplatz Schweiz?
Innovation ist das Lebenselixier der Schweizer Industrie. Die Digitalisierung – wie überhaupt jede Technologie, die einen abrupten Wandel provoziert – bietet grosse Chancen für innovative Firmen. Wir sind auch deshalb so erfinderisch, weil der starke Franken die Unternehmen dazu zwingt, ständig effizienter zu werden.
Der Zwang als Chance?
Um ihre Abläufe und die Produktion zu verbessern, haben viele Firmen in der Schweiz heute schon sehr viel Geld in die Informatik gesteckt. Es gibt auf der ganzen Welt nur zwei Länder, die für die Digitalisierung der Industrie wie gemacht scheinen: Deutschland und die Schweiz!
Dafür braucht es aber Geld – verdienen die Firmen genug, um in die technologische Zukunft zu investieren?
Mehr als die Hälfte der Firmen unserer Branche haben 2016 Verluste gemacht – oder nur so geringe Margen, dass das Geld für Investitionen knapp ist. Wer ums Überleben kämpft, kommt nur schwer an günstige Kredite. Das ist wirklich jammerschade! Es gibt so viel Geld in der Schweiz, aber es fehlt an Risikobereitschaft, dieses Geld innovativen Firmen zur Verfügung zu stellen. Ich kämpfe schon lange darum, dass nur ein einziges Prozent der Pensionskassengelder mit etwas mehr Risiko angelegt werden kann. Zum Beispiel zur Finanzierung von Start-ups oder KMU mit soliden Geschäftsplänen. Das frustriert mich manchmal schon.
Vielen Leuten macht die Digitalisierung Angst. Bald könnte es mehr Roboter als Jobs geben.
Ganz wichtig ist, dass wir diese Ängste ernst nehmen. Gewisse Arbeitsplätze werden verschwinden, aber auch neue entstehen. Dank der Digitalisierung werden wir in der Schweizer Industrie hoffentlich mehr Jobs neu schaffen, als alte verloren gehen.
Ein schwacher Trost für Menschen, die ihre Arbeit verloren haben ...
Es braucht ein Umdenken – und vor allem die Bereitschaft zur Umschulung. Das Thema ist nicht mehr, dass sich jeder ein bisschen weiterbildet, sondern wir müssen alle dazu bereit sein: Ich mache in meinem Leben drei Jobs.
Firmen, denen das Wasser bis zum Hals steht, fehlt das Geld, um in die Ausbildung ihrer Mitarbeiter zu investieren. Wer soll es sonst bezahlen?
Das ist tatsächlich ein Problem – für Firmen und für deren Mitarbeitende. Es braucht ein neues Erwachsenen-Bildungssystem, das auf dem dualen System aufbaut und in der Bevölkerung gut verankert ist. Das kann die Wirtschaft aber nicht alleine bewältigen, alle müssen zusammenarbeiten und nach neuen Lösungen suchen: die Sozialpartner, die Bildungsinstitute, der Staat ...
... der Staat?
Ja, denn Arbeitslosigkeit ist allemal teurer als Umschulung! Vielleicht braucht es so etwas wie einen Bildungsgutschein, der dem Einzelnen finanziell hilft, eine Umschulung in Angriff zu nehmen, und die Firmen ein Stück weit von dieser Aufgabe entlastet.
Welche Rollen spielen die Hochschulen bei der Digitalisierung?
Eine ganz zentrale. Kleine Firmen können es sich kaum leisten, jederzeit alles Wissen im eigenen Unternehmen zu haben, das es braucht, um in der digitalen Welt wettbewerbsfähig zu bleiben. Die bessere Vernetzung von Industrie und Hochschulen ist ein wichtiges Thema – auch am diesjährigen Industrietag 2017 in Lausanne.
Seit 2010 ist Hans Hess an der Spitze des Wirtschafts-Dachverbandes Swissmem zuständig für die Sorgen und Nöte der Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie. Zudem sitzt er auch selbst in Verwaltungsräten – unter anderem als Präsident des Wetziker Kabelproduzenten Reichle & De-Massari. Seine Leidenschaft gilt jedoch nicht nur der Schweizer Industrie, sondern – als Freizeitvergnügen – auch dem Reitsport.
Seit 2010 ist Hans Hess an der Spitze des Wirtschafts-Dachverbandes Swissmem zuständig für die Sorgen und Nöte der Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie. Zudem sitzt er auch selbst in Verwaltungsräten – unter anderem als Präsident des Wetziker Kabelproduzenten Reichle & De-Massari. Seine Leidenschaft gilt jedoch nicht nur der Schweizer Industrie, sondern – als Freizeitvergnügen – auch dem Reitsport.