Gesundheitsökonom Heinz Locher im BLICK-Interview
«Im Gesundheitswesen braucht es eine Revolution»

Jetzt muss das Volk aufstehen. Gegen die horrenden Kosten im Gesundheitswesen, gegen Bund, Kantone und Krankenkassen. Das fordert der renommierte Gesundheitsökonom Heinz Locher im grossen BLICK-Interview.
Publiziert: 17.04.2018 um 23:26 Uhr
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Aktualisiert: 27.09.2018 um 12:45 Uhr
«Prämienzahler sind Opfer einer falschen Gesundheitspolitik»
3:04
Heinz Locher:«Prämienzahler sind Opfer einer falschen Gesundheitspolitik»
Sven Zaugg, Christian Kolbe
Kenner des Systems

Heinz Locher gehört zu den ­besten Kennern des Schweizer Gesundheitswesens. Am Berner Gesundheitsökonom führt in wirtschaftlichen und politischen Fragen kein Weg vorbei. Sein Wissen hat der selbständige Unternehmensberater und Dozent in zahlreichen Publika­tionen veröffentlicht. Locher war unter anderem Mitglied der Expertengruppe des Bundesrats zum Gesundheitswesen.

Heinz Locher gehört zu den ­besten Kennern des Schweizer Gesundheitswesens. Am Berner Gesundheitsökonom führt in wirtschaftlichen und politischen Fragen kein Weg vorbei. Sein Wissen hat der selbständige Unternehmensberater und Dozent in zahlreichen Publika­tionen veröffentlicht. Locher war unter anderem Mitglied der Expertengruppe des Bundesrats zum Gesundheitswesen.

In einem Restaurant im Bahnhof Bern trifft BLICK Heinz Locher (74). Einen zornigen alten Mann, wie er selber sagt. Zornig, weil er seit Jahrzehnten für eine Schweizer Gesundheitspolitik kämpft, die diesen Namen auch verdient. Die Lösungen präsentiert, anstatt neue Probleme schafft. Den radikalen Vorschlag einer fixen Franchise von 5000 oder 10’000 Franken will er nicht kommentieren. Es gebe wichtigere Themen, sagt der Berner Gesundheitsökonom.

BLICK: Es ist zwei vor zwölf, sagt Preisüberwacher Stefan Meierhans. Wie würden Sie den Zustand unseres Gesundheitssystems einschätzen?
Die Einschätzung des Preisüberwachers ist noch zu optimistisch. Bei mir hat es schon lange zwölf geschlagen – und das zur Geisterstunde. Das Gesundheitssystem liegt am Boden. Es ist wohl nichts mehr zu machen, wenn Bund, Kantone und Krankenkassen sich nicht endlich zu einer Lösung zusammenraufen.

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Gesundheitsökonom Heinz Locher findet klare Worte: «Ich plädiere für eine Revolution!»
Foto: Peter Gerber

Das klingt dramatisch. Was muss geschehen?
Das Volk muss das Kartell aus Bund, Kantonen und Krankenkassen entmachten. Ich plädiere für eine Revolution.

Eine Revolution?
Die Bevölkerung muss eine aktivere Rolle übernehmen. Nur sehe ich im Moment niemanden, der sich an die Spitze einer Volksbewegung stellen könnte und endlich sagt: So nicht mehr, jetzt muss Schluss sein mit der stetig steigenden Prämienbelastung!

Wo liegt das Problem?
Die Schweizer Gesundheitspolitik ist eine «unguided missile». Das System verhält sich wie ein Junkie, der immer mehr Stoff braucht. Geld. Doch ein kalter Entzug bringt nichts. Die Drogenpolitik in diesem Land hat uns gezeigt, wie es funktionieren könnte. Es braucht ein System, das auf vier Säulen basiert.

Konkret?
Prävention, Therapie, Schadensminimierung und Repression.

Wie soll das aussehen?
Prävention bedeutet, dass das Volk, also wir Prämienzahler, aufsteht und sagt: Wir sind nicht mehr gewillt, diese Kosten zu übernehmen! Geschieht das nicht, werden die sozial Schwächsten bluten.

Die Therapie?
Es braucht weniger Spitäler und weniger Krankenversicherer. Sie alle verfolgen heute ihre eigenen finanziellen Interessen. Das zerstört unser System. Bei der Schadensminimierung haben wir bereits die Prämienverbilligung. Das ist ein wirksames Werkzeug.

Und Repression?
Bund und Kantone haben jahrelang die Hände in den Schoss gelegt. Sie müssen endlich Verantwortung übernehmen und einen  grösseren Teil der Kosten im Gesundheitssystem tragen. Wenn sie ihre Aufgaben nicht wahrnehmen, soll sie das finanziell treffen. Meistens wirkt das in der Schweiz.

Inwiefern stehen Bund und Kantone in der Verantwortung?
Bund und Kantone müssen  sicherstellen, dass nur qualitativ geeignete Leistungserbringer zugelassen werden und dass die Qualität der Leistungen von Spitälern und Ärzten kontrolliert wird. Das ist heute nur sehr beschränkt der Fall. Wir haben eine Blockade der Leistungserbringer – der Ärzte und Spitäler – gegen Transparenz.

Ein harscher Vorwurf.
Nein. Die Versorgung ist ja da, doch sie ist unwirtschaftlich. Es gibt fast keine Daten darüber, welche Leistungen für die Patienten aus welchem Grund erbracht werden. Wie wollen sie dann wissen, welche Therapie oder welches Medikament wirklich nötig ist? Das Schweizer Gesundheitssystem ist eine Dunkelkammer.

Wo ist es besonders finster?
Gerade im ambulanten Bereich ist die Situation sehr unbefriedigend. Spitäler und Ärzte müssen kaum Rechenschaft ablegen. Es braucht mehr Kontrollen. Der Bund steht da in der Pflicht. So will es das Gesetz.

Also mehr Qualitätsmanagement.
Man muss fairerweise sagen, dass der Bund heute besser kontrollieren lässt, aber: leider immer noch zu wenig. Und etwa 20 Jahre zu spät. Zudem sollten nicht alle Spitäler alles machen. Wir brauchen eine Spezialisierung der Anbieter. Gute Qualität kostet weniger.

Wie liesse sich denn konkret Geld sparen?
Die Krankenkassen haben viel zu lange ihrem Namen alle Ehre gemacht. Sie waren eben nicht viel mehr als Kassen: Geld rein, Geld raus – das wars. Dabei hätten sie es in der Hand, im Dienste der Versicherten abzuklären, welche Leistungen und wie viele Ärzte es wirklich braucht. Sie wären in der Lage, die nötige Kosteneffizienz einzufordern.

Warum tun sie es nicht?
Es fehlt an Interesse und am gesundheitsökonomischen Wissen. Deshalb können die Kassen nur Preis- und keine Gesundheitspolitik betreiben. Das ist blamabel.

Was brächte denn die Aufhebung des sogenannten Vertragszwangs, wie immer wieder gefordert?
Das brächte viel! Nicht mehr jeder Arzt soll zwingend einen Vertrag mit den Krankenversicherern bekommen. Es wäre aber die Aufgabe der Krankenkassen aufzuzeigen, wie viele Ärzte es in einem Gebiet wirklich braucht, um eine gute Versorgung zu gewährleisten. Nur haben das die Kassen nie gemacht, also war es auch ein Leichtes, die Aufhebung des Vertragszwanges zu verteufeln. Die Ironie dabei: Die SP machte sich für die Ärzte stark, anstatt sich für die sozial Schwachen und günstigere Prämien einzusetzen.

Dafür kommt dieser Vorschlag einer Franchise von bis zu 10'000 Franken.
Es gäbe wichtigere Themen, wofür sich die Krankenversicherer einsetzen müssten. Nämlich als Treuhänder der Versicherten. Bei den Krankenversicherern fehlt heute eine Kultur der Verantwortung für das Gesundheitssystem. 

Wäre die Einheitskasse eine Option?
Das ist nur ein Schlagwort. Aber man kann sich schon fragen, ob es wirklich so viele Kassen braucht, wie wir heute haben. Damit es Wettbewerb im System gibt, reichen zehn bis zwölf Krankenversicherer längst.

Wie lange können wir uns dieses Gesundheitssystem noch leisten?
Volkswirtschaftlich noch lange, wir sind eines der reichsten Länder der Welt. Aber wir können nicht nochmals Jahre so weitermachen, das können wir sozial- und familienpolitisch schlicht nicht verantworten. Wir haben heute eine Prämiennot! Es gibt immer mehr Leute, die fliegen aus der obligatorischen Grundversicherung raus. Es darf in der reichen Schweiz nicht sein, dass sich eine Familie zwischen einem neuen Velo und der Krankenkassenprämie entscheiden muss.

Wie sieht ein ideales Gesundheitssystem aus?
Die gesamte Bevölkerung hat unabhängig von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Einzelnen Zugang zu einem ausreichenden, qualitativ hochstehenden und finanzierbaren Gesundheitssystem. Dessen Leistungen werden transparent ausgewiesen.

Heinz Locher (74), Gesundheitsökonom

Heinz Locher gehört zu den besten Kennern des Schweizer Gesundheitswesens. Am Berner Gesundheitsökonom führt in wirtschaftlichen und politischen Fragen kein Weg vorbei. Sein Wissen hat der selbständige Unternehmensberater und Dozent in zahlreichen Publikationen veröffentlicht. Locher war unter anderem Mitglied der Expertengruppe des Bundesrats zum Gesundheitswesen.

Heinz Locher gehört zu den besten Kennern des Schweizer Gesundheitswesens. Am Berner Gesundheitsökonom führt in wirtschaftlichen und politischen Fragen kein Weg vorbei. Sein Wissen hat der selbständige Unternehmensberater und Dozent in zahlreichen Publikationen veröffentlicht. Locher war unter anderem Mitglied der Expertengruppe des Bundesrats zum Gesundheitswesen.

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