Wussten Sie, dass Milchkühe liebevolle Mütter sind? Und dass sie jedes Jahr ein Kalb zur Welt bringen, das ihnen dann gleich nach der Geburt weggenommen wird?»
Falls Sie jemals Evelyn Scheidegger (38) begegnen, kann es gut sein, dass sie Ihnen diese Fragen stellt. Die junge Biobäuerin möchte die Konsumenten aufklären. Und sie möchte die Haltung von Milchkühen revolutionieren.
Mittwochabend in der Westschweiz. Während sich der Himmel allmählich rosa färbt, macht das Kälbchen Pirat im Stall einen grossen Satz auf seine Mutter zu. Endlich ist fertig gemolken– und Pirat an der Reihe. Gierig beginnt er zu trinken und wedelt dabei freudig mit seinem felligen Schwänzchen. Die Bäuerin lacht. «Iz bisch zfride, gäu», sagt sie und streichelt dem Jungtier über den Rücken.
Pirat hat Glück. In den allermeisten Fällen wird das Kälbchen nach der Trennung von der Mutter in einem Iglu ausserhalb des Stalls gehalten – alleine. Auch auf Biohöfen. «Die Trennung ist schlimm», sagt Scheidegger. «Die Mutter gerät in Panik, sucht nach ihrem Kalb und schreit tagelang.»
Kühe entspannter, Kälbchen fitter
Fast noch schlimmer: Kälber kommen ohne Immunsystem zur Welt und brauchen darum Kontakt zum Muttertier. Haben sie den nicht, leiden sie häufig an Durchfall – was wiederum zu hohem Antibiotikaeinsatz führt.
Auf dem Hof von Evelyn und Stefan Scheidegger gehören diese Dinge der Vergangenheit an. Hier dürfen die Kälber zweimal am Tag zu ihren Mamis, um Milch zu trinken und zu kuscheln, wie die Bäuerin sagt. Auch im Stall und auf der Weide sind die Kälbchen immer in Sicht der Mütter.
Seither sind nicht nur die Kühe entspannter, sondern auch die Kälbchen fitter. Auf Antibiotika kann Scheidegger grösstenteils verzichten. Das Konzept nennt sich MuKa-(Mutter-Kalb-)Haltung: Die Konsumenten teilen die Milch mit den Kälbern. «Die Kühe geben genug für beide», sagt die Bäuerin. Das Konzept ist in der Schweiz ganz neu: Erst zehn von 20'000 Milchbetrieben produzieren so.
Mit nur 20 Rappen mehr würde sich die MuKa-Haltung lohnen
Als der kleine Pirat satt ist, beginnt seine Mutter, ihn abzulecken. Später wird er sich zu den anderen Kälbchen ins Stroh legen. «In einem Iglu könnte er das nicht», sagt Scheidegger, «das bricht mir das Herz.»
Das klassische Modell kommt daher für sie nicht infrage – trotz Einbussen. «Aber die nehmen wir in Kauf.» Scheidegger rechnet vor: Würde der Liter Milch nur 20 Rappen teurer, würde sich die MuKa- Haltung lohnen. «Ich bin überzeugt, dass die meisten Konsumenten bereit wären, diesen Aufpreis zu zahlen. Auch ich selbst war als Quereinsteigerin schockiert, als ich realisierte, dass Kühe und Kälber getrennt werden.» Mithilfe der Haldimann-Stiftung für Tierschutz informiert Scheidegger nun ihre Kunden.
Dass sie dafür im bäuerlichen Umfeld oft belächelt wird, ist ihr egal. «Ich orientiere mich an den Konsumenten. Und die sagen mir, sie hätten schon lange so etwas gesucht.» Vergeblich – bis jetzt.
Seit kurzem verkauft der Verein Cowpassion, den Scheidegger gemeinsam mit Bäuerinnen und Konsumentinnen gegründet hat, online den ersten Schweizer Käse aus MuKa-Haltung. Der stammt von einem anderen MuKa-Bauern. Die Milch ihrer Kühe verkauft Scheidegger momentan noch an einen Verarbeiter – will aber bald ebenfalls auf Cowpassion-Vermarktung setzen.
Scheidegger ist Vegetarierin
Trotz aller Idylle: Ganz ohne Tierleid geht es bei der MuKa-Haltung noch nicht. Auch Scheideggers ausgediente Milchkühe und männliche Kälber müssen zum Schlachter. «Das tut schon weh», sagt sie. Die Bäuerin selbst verzichtet auf Fleisch.
«Wären die Konsumenten bereit, einen Aufpreis zu zahlen, würde ich meine Tiere statt zum Schlachter sofort auf einen Lebenshof schicken.» Der kleine Pirat wird schon bald erfahren, wie sich dieses Glück anfühlt: Dank einer Patenschaft wird er seine Zukunft auf einem Lebenshof verbringen.
Es sind vor allem Frauen wie Scheidegger, die sich für mehr Tierwohl einsetzen. Bei Cowpassion sind sie federführend. Und die meisten Kunden sind weiblich. Scheidegger: «Gerade im bäuerlichen Bereich habe ich den Eindruck, dass Frauen eine andere Schmerzgrenze haben und auch mal sagen: Das kann es doch nicht sein!»
Wie es auch die Bäuerin selbst vor ein paar Jahren getan hat. Der kleine Pirat dankt es ihr.
Bis vor kurzem war unklar, ob Milch aus Mutter-Kalb-Haltung (MuKa) überhaupt verkauft werden darf. Schuld daran war eine missverständlich formulierte Verordnung über Lebensmittel tierischer Herkunft. 2019 hat das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen die Verordnung aufgrund einer Motion revidiert. Nun darf Milch aus MuKa-Haltung offiziell verkauft werden.
Bis vor kurzem war unklar, ob Milch aus Mutter-Kalb-Haltung (MuKa) überhaupt verkauft werden darf. Schuld daran war eine missverständlich formulierte Verordnung über Lebensmittel tierischer Herkunft. 2019 hat das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen die Verordnung aufgrund einer Motion revidiert. Nun darf Milch aus MuKa-Haltung offiziell verkauft werden.