Hausbesuch bei David Dorn, dem führenden Schweizer Experten für internationale Arbeitsmärkte. Der Professor am Volkswirtschaftlichen Institut der Universität Zürich arbeitet in einem bescheidenen Studierzimmer, in einem Gebäude, welches vor vielen Jahren eine Brauerei und später eine Kantonsschule beherbergt hatte – dort ging einst auch Dorns Vater zur Schule. Auf solch bodenständigem Grund will David Dorn erkennen, wie sich die Globalisierung auf lokale Arbeitnehmer auswirkt. Oder inwieweit China als Fabrik der Welt uns hier in Europa die Industriearbeitsplätze wegnimmt.
Dorn ist selbst ein erfolgreiches schweizerisches Exportprodukt. Der Mann, der unaufgeregt in gleichmässigem Timbre seine wissenschaftlichen Erkenntnisse preisgibt, führt in seiner wissenschaftlichen Vita als Student und Professor einige der renommiertesten Adressen: die Harvard University ebenso wie das Massachusetts Institute of Technology (MIT), die Boston University und das Zentrum für Geld- und Finanzstudien in Madrid. Im aktuellen Ökonomen-Ranking der NZZ belegt der 38-Jährige inzwischen Platz 15, ein «beispielloser Aufstieg» urteilt das gewöhnlich nüchterne Blatt und sieht ihn als «aufstrebender Stern am Ökonomenhimmel». Bei aller an den Tag gelegten Bescheidenheit, würde Dorn dem wohl nicht widersprechen. In den USA sei er bekannter als in der alten Welt, sagt er beiläufig, und der Beraterstab des Präsidenten hätten ihm auch zugetragen, dass selbst Barack Obama seine Thesen zur Kenntnis genommen habe.
BLICK: Herr Dorn, Sie haben in Aufsehen erregenden Studien in den USA gezeigt, dass die chinesische Konkurrenz dort im grossen Stil Industriearbeitsplätze vernichtet hat. Die sozialen Folgen waren dramatisch und haben letztlich auch den «America-First»-Propagandisten Donald Trump in das Weisse Haus getragen.
David Dorn: Unsere stark sozialwissenschaftlich getriebene Forschung hat in der Tat aufgezeigt, dass negative Veränderungen beim Erwerbseinkommen oder gar Jobverlust dramatische Folgen in den Familienstrukturen nach sich ziehen. Das war in den USA in industriell geprägten Gegenden und Branchen der Fall, nachdem China seine Industrieproduktion angekurbelt und damit die Handelskonkurrenz potenziert hat.
Mit welchen Folgen?
Vom damit einhergehenden Jobverlust waren insbesondere weisse Männer betroffen. Die sozialen Konsequenzen waren dramatisch. Die Männer konnten ihre angestammte Rolle als Familienernährer oftmals nicht mehr ausfüllen und das veränderte nicht zuletzt auch das Verhältnis zwischen Mann und Frau. Erstere waren oftmals keine attraktiven Partner mehr, verfielen mitunter dem Alkohol oder den Drogen. Es gab weniger Heiraten und weniger eheliche, dafür mehr uneheliche Kinder, die ohne Vater aufwachsen. In diesem Milieu holte der Republikaner Donald Trump viele Stimmen.
Lässt sich solches Szenario auf Europa übertragen?
Nach unseren Forschungen in den USA wurden mit der gleichen Methodik auch verschiedene Studien in Europa gemacht. In England zeigte es sich, dass Regionen, die starker Handelskonkurrenz ausgesetzt sind, verstärkt dem Brexit zugestimmt haben. Und auch anderswo sind aus diesem Grund Rechtsaussenparteien im Vormarsch.
Unabhängig von der Politik: Das bedeutet, dass angesichts der Globalisierung im Westen die Angst vor Jobverlust gerechtfertigt ist?
Im grossen Bild zeigt sich, dass sich seit den 1970er Jahren das Wirtschaftswachstum im Westen deutlich abgeschwächt hat. Nach dem Zweiten Weltkrieg wuchs das Bruttoinlandprodukt, das BIP, pro Kopf um drei bis vier Prozent pro Jahr, heute sind es noch höchstens zwei Prozent. Hinzu kommt: Ausserhalb von IT und Telekommunikation sind keine breitflächig wachstumsfördernden technologischen Durchbrüche mehr zu verzeichnen gewesen.
Gegen die im Westen Jobs vernichtende chinesische Handelskonkurrenz ist kein Kraut gewachsen?
Es gilt das grosse Bild zu sehen: China ist in den vergangenen 25 Jahren als Produktionsstandort in den Weltmarkt eingetreten. Zuvor, im Kalten Krieg, hatte der eine Teil der Welt mit dem anderen aus politischen Gründen keinen Handel betrieben. China war bis gegen Ende der 1980er Jahre von Welthandel abgeschottet. Danach implementierte das bevölkerungsreichste Land der Welt wichtige wirtschaftliche Reformen und stieg innert kurzer Zeit zum weltweitführenden Exporteur von Gütern auf. So gesehen wurde lediglich eine historische Anomalie beseitigt.
Was bedeutet all dies für den schweizerischen Arbeitsmarkt?
Für unser Land ist diese Entwicklung weniger dramatisch als für die USA oder Grossbritannien. Diese grossen Volkswirtschaften hatten noch vor 30 Jahren grosse Industriesektoren, die überproportional für den Binnenmarkt produzierten und eher wenig exportierten. Die Schweiz aber verfügt über Weltunternehmen und hochspezialisierte KMU, die von jeher international ausgerichtet waren. Als im Osten die Märkte aufgingen, konnte die Schweiz beispielsweise im grossen Stil Pharmazeutika oder auch Uhren dorthin exportieren.
Neben der volkswirtschaftlichen Veränderung, die sich im Aufstieg Chinas manifestiert, scheinen auch Grosskonzerne zum Faktor für die Verteilung der globalen Beschäftigung geworden zu sein. Täuscht dieser Eindruck?
Jeder Ökonomiestudent hat gelernt, dass gewöhnlich zwei Drittel des produzierten Wohlstands an die Arbeitnehmer und ein Drittel an die Kapitalgeber in den Unternehmen gehen. Dies hat sich heute in vielen Ländern zugunsten der Konzerne verschoben.
Haben Gewerkschaften recht, wenn sie anprangern, dass Arbeitgeber zulasten der Arbeitnehmer profitieren?
Bei der vorschnellen Verurteilung von Grosskonzernen ist Vorsicht angebracht. Es existiert keine signifikante Evidenz, dass Konzerne Mitarbeiter beim Lohn systematisch schlecht behandeln, auch wenn die Profite bei guten Geschäftsgang in Form von steigenden Dividenden zunächst und überproportional den Kapitalgebern zufliessen. Umgekehrt gilt ja auch: bei einem Einbruch werden meist nicht sofort Löhne gekürzt und Massenentlassungen vorgenommen, sondern Dividenden gekappt und Abschreiber getätigt. Das ist wirtschaftlich sinnvoll, da die Kapitalgeber bei jeder Entwicklung das grössere Risiko tragen.
Also ist hier lediglich gewerkschaftliche Interessenvertretung im Spiel?
Die Ungleichheit resultiert in vielen Fällen ja daher, dass es in vielen Branchen zu einer ungesunden Marktkonzentration gekommen ist. Wenn der Wettbewerb in einer Branche nicht mehr genügend spielt, können die Unternehmen durch überhöhte Preise auf Kosten der Konsumenten profitieren und der Anreiz zur Innovation sinkt. Dass die EU Kartelle inzwischen mit Rekordbussen belegt, zeigt, dass dieser Zusammenhang in der Politik erkannt ist.
David Dorn ist kein Dogmatiker, sondern ein Vertreter einer jüngeren Ökonomen-Generation eines neuen Jahrtausends. Hatten im ausgehenden 20. Jahrhundert in der Zunft mathematische Modelle und ideologische Grabenkämpfe zwischen Markt-Apologeten und Staatsinterventionisten die Szene dominiert, ist Dorn ein Vertreter einer nüchtern Daten analysierenden Ökonomie mit stärker gesamtgesellschaftlichem Anspruch. Damit knüpfen er und andere an eine starke Tradition an: schon der Begründer der modernen Nationalökonomie, Adam Smith, hatte sein Forschungsgebiet als stark philosophisch geprägte Sozialwissenschaft begriffen.
Die Digitalisierung ist aber für alle, Arbeitnehmer, Konzerne, Volkswirtschaften eine Realität, welche die Arbeitswelt dramatisch verändert.
Die Forschung zeigt, dass sich der Grosseinsatz von Computern und Robotern sehr unterschiedlich auf verschiedene Tätigkeiten auswirkt. Beides sind spezialisierte Geräte, die dem Menschen stark strukturierte, regelgebundene Arbeiten abnehmen können. Wenn es aber um kreative Prozesse, feinmotorische Bewegungen oder menschliche Interaktion geht, ist ein Roboter schnell einmal verloren. Dass er einmal komplett selbständig Hotelzimmer putzt, ist also nicht anzunehmen.
Wieso nicht?
Oberflächlich betrachtet sieht jedes benutzte Hotelzimmer gleich aus. Die Betten müssen gemacht, das WC geputzt werden. Nun liegen aber in dem einen Zimmer Pizzareste herum, im andern vergessener Schmuck. Ein Roboter kann im Gegensatz zum Putzpersonal nicht leicht erkennen, dass das eine in den Abfall, das andere aber retourniert gehört.
Trotzdem: Die Disruption ist in vielen Branchen Realität.
Ich bin nicht so pessimistisch. Die technologische Entwicklung läuft langsamer ab, als oftmals angenommen, was Zeit lässt, den Wandel zu bewältigen und abzufedern. So hat die Automatisierung in den Fabriken schon vor langer Zeit begonnen und die Angst vor dem Roboter ebenso. Aber die Entwicklung war genügend graduell, so dass der Wandel gestaltbar blieb und die ganz grossen Schocks auf dem Arbeitsmarkt ausgeblieben sind. Veränderungen bei den Handelsströmen wirken sich dagegen viel dramatischer aus als der Wandel in der Technologie.
Warum?
Der Handel setzt immer bei Branchen an. Nehmen wir als Beispiel die Textilindustrie. In der Alten Welt ist diese nicht mehr konkurrenzfähig, weil sie nach Asien abgewandert ist. Konsequenz: Ganze Fabriken werden auf einen Schlag dichtgemacht, die Angestellten stehen sofort auf der Strasse und die Ware wird aus Fernost importiert. Die technologische Automation betrifft dagegen einzelne Berufe, deren Beschäftigung fortlaufend sinkt. Manche der betroffenen Arbeitnehmer können dabei im gleichen Unternehmen wieder eine neue Tätigkeit finden. Die wirkliche Herausforderung des Arbeitsmarktes in der Schweiz liegt aber in der Bewältigung der zunehmenden Polarisierung.
Das bedeutet?
Manager, Ärztinnen oder Anwälte können genauso wenig wegautomatisiert werden wie Putzfrauen, Coiffeure oder Altenpfleger. Die Beschäftigung konzentriert sich damit in den best- und niedrigst bezahlten Berufen, während in der Mitte des Arbeitsmarktes ein Vakuum entsteht wegen der Automatisierung von vielen Jobs in Büros und Fabriken.
Soll man die Angestellten im unteren Lohnbereich einfach besser bezahlen?
Die Polarisierung verstärkt die Ungleichheit bei den Einkommen. Die gesellschaftliche Herausforderung besteht nun darin, eine Zweiklassengesellschaft zu vermeiden, die wenig Durchlässigkeit auf dem Arbeitsmarkt bietet. Das würde bedeuten, dass die Niedrigbezahlten keine Aufstiegsmöglichkeiten mehr haben. Insgesamt habe ich aber den Eindruck, dass wir in der Schweiz durch das Berufslehrsystem diese Entwicklung etwas abfedern können. Denn dadurch ist die Kompatibilität zwischen Ausbildung und Arbeitsmarkt bei uns viel stärker ausgeprägt als in den meisten anderen Ländern.