In der grossen Finanzkrise 2008 wechselten Behörden und Zentralbanken überall auf der Welt in den Notfallmodus. Sie retteten Banken, Staaten und den Euro vor dem Zusammenbruch.
Alle Patienten erhielten dasselbe Medikament: frisches Geld. Bis heute wurde die Dosis stetig erhöht. Doch was damals heilsame Medizin war, ist mittlerweile pures Gift.
Die Geldpolitik der Zentralbanken ist ausser Kontrolle geraten.
Ozean an Liquidität
«Wir sind immer noch im Ausnahmezustand», sagt Volkswirtschaftsprofessor Aymo Brunetti (56) von der Uni Bern. Während der Finanzkrise war er Leiter der Direktion für Wirtschaftspolitik im Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) und Mitglied einer Expertenkommission für die Regulierung systemrelevanter Banken. «Geldpolitisch sind wir in einer Welt, in der wir noch nie waren.» Die Zentralbanken hätten einen Ozean an Liquidität geschaffen. «Das Ausmass ist gigantisch.»
Es lässt sich direkt in den Bilanzen der Zentralbanken ablesen: Sie haben sich seit der Finanzkrise vervielfacht. Und ein Ende ist nicht in Sicht. Am Donnerstag hat die Europäische Zentralbank (EZB) unter Führung von Mario Draghi (72) eine weitere Senkung des Einlagensatzes für Banken von minus 0,4 auf minus 0,5 Prozent beschlossen.
Wird die Schweizerische Nationalbank (SNB) am nächsten Donnerstag nachziehen und ihren Leitzins von minus 0,75 auf minus 1 Prozent senken? «Ich hoffe, dass keine Anpassung erfolgen wird», sagt Brunetti. «Für die SNB ist aber natürlich der Wechselkurs der alles dominierende Faktor. Der Schweizer Franken wird gerade jetzt extrem stark als Hort der Stabilität gesehen.»
Nur wenig Spielraum
Bloss: In der Schweiz haben wir Vollauslastung der Wirtschaft und tiefe Arbeitslosigkeit. So gesehen gibt es keinen Grund für eine expansive Geldpolitik. Warum nicht gerade jetzt Gegensteuer geben und die Zinsen erhöhen? Brunetti: «Dann droht dem Franken ein massiver Aufwertungsschock, der der Exportindustrie stark zusetzen würde.» Dieses Risiko sei zu hoch. «Es gibt sehr wenig Spielraum.»
Die EZB senkt nicht nur die Zinsen, sie reaktiviert auch die Ende 2018 gestoppten Käufe von Unternehmens- und Staatsanleihen. Ab November erwirbt sie jeden Monat Papiere im Wert von 20 Milliarden Euro. So ermöglicht sie Staaten wie Griechenland, Spanien und Italien, ihre Schuldenberge weiter aufzutürmen – bis zum Kollaps.
«Ein Staatsbankrott von Spanien oder Italien ist leider immer noch möglich», sagt Brunetti. Das Problem der Euro-Staaten: Sie haben keine eigene Geldpresse. Es gibt nur die EZB, die für den gesamten Wirtschaftsraum verantwortlich ist. England kann sich leicht verschulden, weil es eine eigene Währung und die Bank of England hat, die für die Schulden des Staates geradesteht. Euro-Länder wie Spanien oder Italien haben diese Instrumente nicht. Ihnen droht der Bankrott.
Sämtliche Vermögenswerte betroffen
Und dann? «Erhielten sie keine Hilfe der anderen Euro-Staaten, müssten sie die Eurozone wohl verlassen», sagt Brunetti. «Das gäbe eine ökonomische Katastrophe. Dagegen war die Finanzkrise in Europa ein laues Lüftchen.»
Die Börsen reagierten positiv auf die neuesten Nachrichten der EZB. Kein Wunder. Tiefere Zinsen sorgen für höhere Bewertungen an den Finanzmärkten. «An den Börsen sieht man die Übertreibungen glasklar», sagt Adriel Jost (34), Chefökonom beim Beratungsunternehmen Wellershoff & Partners. «Die Fallhöhe wird immer grösser.»
Betroffen sind sämtliche Vermögenswerte: Aktien, Obligationen, Immobilien, Antiquitäten. Selbst Oldtimer sind so teuer wie noch nie. «Die Börsen sind im Drogenrausch», sagt Raiffeisen-Chefökonom Martin Neff (58). «Die Dosierungen werden höher und höher.» Die Gefahr, dass die Blase platze, werde immer grösser. «Irgendwann haut uns eine Überdosis um.» Werden wenigstens Konsum und Investitionen steigen? Damit rechtfertigen die Zentralbanken ja ihr Tun. Neff: «Schön wärs. Aber das Geld kommt nicht in der Realwirtschaft an.» Gibt es keine Exitstrategie aus dieser geldpolitischen Misere? «Nein. Es ist eine Art Schrecken ohne Ende. Es gibt keinen Notausgang.»