«Eine Kultur des vorauseilenden Gehorsams», «Hemdsärmeligkeit beim Kauf von Beteiligungen» und «Unzureichende Führungs- und Kontrollmechanismen». Das sind die vernichtenden Worte des zurückhaltenden Wirtschaftsprofessors Bruno Gehrig (72) in seiner Untersuchung zur Ära von Ex-Chef Pierin Vincenz (62), die gestern publik wurde. Er attestierte dem Verwaltungsrat und der Geschäftsführung von Raiffeisen de facto komplettes Versagen.
Dennoch fand er «keine klaren und eindeutigen Nachweise» für strafrechtlich relevantes Verhalten oder persönliche Bereicherung von Vincenz. Allerdings waren Sachverhalte, die bereits Gegenstand eines Strafverfahrens sind, von der Untersuchung ausgenommen. Auch Raiffeisen-Verwaltungsratspräsident Guy Lachappelle (57) räumte ein: «Der Gehrig-Bericht hat seine Grenzen, weil er nur innerhalb von Raiffeisen untersuchen konnte.»
«Besonders heikel»
Es wäre falsch, von einer Reinwaschung von Vincenz zu sprechen, sagt Peter V. Kunz, Direktor am Institut Wirtschaftsrecht der Uni Bern. Sowieso untersuchte der externe Bankenprofessor Gehrig nur einen Teil der Zukäufe, die Raiffeisen zwischen 2012 und 2015 für rund eine Milliarde Franken getätigt hatte. All jene Beteiligungen, die im Visier der Zürcher Staatsanwaltschaft sind, waren ausgenommen. Darunter die Beteiligung bei Investnet, die Bankenexperte Hans Geiger als «besonders heikel» bezeichnet.
«Das Strafverfahren der Zürcher Staatsanwaltschaft gegen Pierin Vincenz und weitere Beschuldigte ist nach wie vor am Laufen», sagt der Sprecher der Zürcher Oberstaatsanwaltschaft, Erich Wenzinger. Die Zürcher Staatsanwaltschaft sei im Besitz des Gehrig-Berichts und prüfe ihn. Wenzinger wollte nichts zu Spekulationen sagen, wonach es bis im Sommer zu einer allfälligen Anklage kommen könnte. Es gilt immer noch die Unschuldsvermutung.
300 Millionen Franken
Das neue Führungsduo Lachappelle und Konzernchef Heinz Huber (54) nutzte den Bericht als Gelegenheit, um Altlasten zu entsorgen. Alle Raiffeisen-Beteiligungen sollen neu bewertet werden. Den möglichen maximalen Gesamtschaden, der der Bank durch die undurchsichtigen Übernahmen und Deals entstanden ist, beziffert Lachappelle auf 300 Millionen Franken. Das wird den Gewinn des letzten Jahres belasten.
Die neue Führung gibt sich kämpferisch und lässt derzeit Regressansprüche für den Riesenschaden durch Ex-Raiffeisen-Chef Pierin Vincenz & Co. prüfen. «Wir versuchen, so viel wie möglich von dem Geld wieder zurückzuerhalten», so Lachappelle. Die Führung wolle den Schaden für Raiffeisen möglichst klein halten. Weiter betonte er: «Ich werde auf alle Personen, die in der Verantwortung waren, zugehen.» Damit müssen alle im Gehrig-Bericht mitgemeinten, aber nicht explizit erwähnten ehemaligen Verwaltungsräte und Geschäftsleitungsmitglieder mit Forderungen rechnen.
Jetzt ist die alte Garde weg
Adressiert wird damit unter anderen der ehemalige Verwaltungsratspräsident und St. Galler Professor für Corporate Governance, Johannes Rüegg-Stürm. Forderungen ins Haus stehen dürften auch Ex-CEO Patrik Gisel. Die verbliebenen Geschäftsleiter aus der Ära Vincenz mussten anlässlich der Publikation des Gehrig-Berichts per sofort den Hut nehmen. Betroffen sind Gabriele Burn, Regionen-Leiterin, und Beat Hodel, Leiter Gruppen-Risikosteuerung, sowie Paulo Brügger, Leiter Departement Zentralbank. Zusätzlich gab auch Roland Staub seinen Posten als Generalsekretär ab.
Letzten November hatte bereits Gisel, der die Nachfolge von Vincenz angetreten hatte, seinen Chefposten abgegeben. Für Vincenz und seine Abnicker könnte es ungemütlich werden. Raiffeisen habe sich als Partei im Strafverfahren gegen Vincenz positioniert, sagt Bankenexperte Geiger. Das sei für die zivilrechtlichen Schadenersatzforderungen relevant. «Wenn Lachappelle sage, so viel Geld wie möglich zurückerhalten zu wollen, dann muss Vincenz wohl noch um sein Heimetli fürchten», sagt Geiger zu BLICK. Das heisst, ehemalige Führungspersonen könnten dereinst mit ihrem Privatbesitz für die Schäden haften.
Auch die Finma komme im Bericht schlecht weg, findet Geiger. Erwähnt wird, dass die Finma gegen Raiffeisen erst im Oktober 2017 ein aufsichtsrechtliches Verfahren zu Corporate-Governance-Themen eröffnete. Raiffeisen gehöre zu den fünf systemrelevanten Banken der Schweiz, da habe die Finma zu wenig hingeschaut.