Gabriela Meier (59) hatte sich weit nach oben gekämpft: Sie war stellvertretende Geschäftsführerin eines Kleinbetriebs und einst Einsatzleiterin bei einer Helikopterfirma. Heute ist sie arbeitslos und findet keinen Job. In den vergangenen Monaten hat sie 150 Bewerbungen geschrieben. Einmal wurde sie zum Gespräch eingeladen.
Wie Meier geht es immer mehr Menschen, die älter als 50 Jahre sind. Noch zu Beginn dieses Jahrtausends waren 20'000 Menschen im Alter über 50 erwerbslos, jetzt zählt das Bundesamt für Statistik 55'000 Personen. Das ist, als ob in dieser Zeit die Stadt Schaffhausen oder die Stadt Chur arbeitslos geworden wäre.
Nach 21 Jahren plötzlich auf der Strasse
Meier wohnt in Chur. Einst machte sie dort eine Ausbildung als Hotelsekretärin. Sie habe dann sehr schnell in den kaufmännischen Bereich gewechselt. Rund fünf Jahre in der Administration des Kantonsspitals, dann zehn Jahre bei einer Bündner Helikopterfirma. Anschliessend arbeitete sie 21 Jahre in einem kleineren Betrieb, wo sie bis zur stellvertretenden Geschäftsführerin aufstieg und ein gutes Dutzend Angestellte führte. Dann wechselte der Inhaber. Mit ihm funktionierte die Zusammenarbeit nicht. Seither ist sie auf Stellensuche.
Arbeitnehmer ab einem Alter von 55 Jahren können 520 Taggelder beziehen, was zwei Jahren Arbeitslosigkeit entspricht – ein halbes Jahr länger als jüngere Arbeitnehmer. Wem innerhalb der letzten vier Jahre vor Erreichen des Rentenalters gekündigt wurde, der hat zusätzlich noch einmal Anspruch auf 120 Taggelder. Danach werden Arbeitslose ausgesteuert. Im Jahr 2017 traf es im Schnitt 3279 Personen pro Monat.
Nächstes Jahr droht Gabriela Meier eine davon zu werden. Das heisst, sie müsste das Sozialamt um Unterstützung bitten. Ein rotes Tuch für sie. «Ich versuche das mit allen Mitteln zu vermeiden.» Wahrscheinlich müsste sie ausziehen, denn ihre Wohnung ist teurer als die 980 Franken, die das Sozialamt zuschiesst.
Absagegrund «überqualifiziert»
So weit ist es bei Roger Wagner noch lange nicht. Aber der 52-Jährige ist seit fast zwei Jahren auf der Suche nach einem Job. Der ausgebildete Kaufmann mit einem MBA von der Fachhochschule Nordwestschweiz arbeitete schon in der erweiterten Geschäftsleitung von Handelsbetrieben und führte rund 100 Mitarbeiter. Im Jahr 2010 machte er sich selbständig. Zuerst lief es gut, aber inzwischen sucht er wieder ein festes Einkommen als Angestellter. Auf Bewerbungen bekomme er nur Absagen. Der Grund: Er sei überqualifiziert und nach langer Selbständigkeit nicht mehr in der Lage, unter einem Chef zu arbeiten. Wagner versteht das nicht: «Ich habe als Selbständiger immer einen Chef, meinen Auftraggeber.»
SonntagsBlick hat mit weiteren Betroffenen gesprochen. Die meisten wollen anonym bleiben, alle rätseln über die Gründe, warum es mit der 5 auf dem Rücken schwieriger wird auf dem Arbeitsmarkt. Viele sind gut ausgebildet und waren erfolgreich in ihrer bisherigen Laufbahn. Etwa die Juristin mit Zusatzausbildung als Fachfrau im Personalwesen, die mehrjährige Erfahrung als Personalleiterin mitbringt. Jetzt will sie niemand mehr.
«Vielleicht wirkt ein 35-jähriger vordergründig dynamischer», sagt Wagner. Er habe auch schon erlebt, dass eine jüngere Chefin Mühe damit gehabt hätte, einen über 50-Jährigen einzustellen. Vielleicht auch aus Angst vor der Erfahrung des Mitarbeiters. Natürlich seien ältere etwas langsamer, dafür hätten sie Erfahrung, ein Netzwerk und könnten sich besser durchsetzen, meint Meier. Die meisten hören immer wieder, dass sie zu teuer seien.
Lohnnebenkosten als Hindernis
Tatsächlich steigen die Lohnnebenkosten mit dem Alter. Bis zum Alter von 44 Jahren werden zehn Prozent als Beiträge für die Pensionskasse fällig, ab 45 Jahren 15 Prozent und ab 55 Jahren gar 18 Prozent. Mindestens die Hälfte davon muss der Arbeitgeber bezahlen.
Das erschwert die Anstellung von älteren Arbeitnehmern. Deshalb wird auch oft darüber diskutiert, die Beiträge an die Pensionskasse altersunabhängig zu gestalten. Weil die Arbeitnehmer künftig sogar noch länger, über das heutige Rentenalter hinaus beschäftigt bleiben sollen, stehen weitere Reformvorschläge im Raum. Der Verband Avenir50plus setzt sich für ein Gesetz zum Schutz vor Diskriminierung im Alter ein. Wird ein Bewerber wegen seines Alters aussortiert, könnte er das Unternehmen verklagen.
Denis Humbert, Fachanwalt für Arbeitsrecht und Partner bei der Humbert Heinzen Lerch Rechtsanwälte, hat sich eingehend mit dem Thema auseinandergesetzt und Vorschläge für einen wirksamen Schutz älterer Angestellter ausgearbeitet. Darunter etwa ein Steuerbonus für Unternehmen, die Erwerbslose über 55 Jahren einstellen, Zuschüsse aus der Arbeitslosenversicherung und eine drei Monate längere Kündigungsfrist ab Alter 55.
Frau Meier gibt nicht auf. Sie hat sich dem Verband Avenir50plus angeschlossen und baut dort den neuen Regionalverband Südostschweiz auf. Ein erstes Treffen von Betroffenen findet in Chur statt, am Donnerstag, 4. Oktober.