Wie Ex-UBS-Banker Raoul Weil Amerika in die Knie zwang
Grosses Kino vor Gericht

Raoul Weil war einst Leiter der globalen Vermögensverwaltung der UBS, bis ihn die USA im Jahr 2008 wegen Beihilfe zum Steuerbetrug anklagten. Die vier darauf folgenden Jahre entpuppten sich zum Albtraum – bis es Weil gelang, den Goliath zu bezwingen. Den Gerichts-Krimi hat er nun in seinen Memoiren niedergeschrieben.
Publiziert: 02.12.2015 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 05.10.2018 um 06:26 Uhr
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Verdikt «unschuldig»: Raoul Weil.
Foto: Sabine Wunderlin
Von René Lüchinger

Als diese Geschichte beginnt, ist sein Haar dicht und dunkelbraun. Am 3. November 2014 ist es noch immer dicht, aber mehr grau denn braun. An diesem Montag, kurz nach 16.15 Uhr, fällt im Gerichtssaal von Fort Lauderdale im Fall USA gegen Raoul Weil das Urteil: «Unschuldig!» Dazwischen liegen fast sechs Jahre Albtraum. Ein Albtraum, den Raoul Weil, ehemaliger Leiter der globalen Vermögensverwaltung der UBS, nun auf 368 Seiten niedergeschrieben hat. Weil sagt: «Die Anklage war politisch motiviert.» Die Worte kommen ohne Groll, nüchtern, als würde der Banker Aktienkurse analysieren. «Auch die Schweiz wollte für den Finanzplatz einen Deal. Da war kein Platz für Einzelschicksale!»

Was er erlebt, ist grosses Kino mit Happy End. Da ist die Weltmacht USA, die Steuersünder überführen und das Bankgeheimnis bodigen will. Da sind die helvetischen Politiker, die auf die Rechtssouveränität des Landes pochen, um dann vor den Sheriffs aus dem Department of Justice (DoJ), dem US-Justizministerium, in die Knie zu gehen. Vor dieser Kulisse spielt der Fall Raoul Weil.

In diesem Stück spielen mit –in alphabetischer Reihenfolge:

- Cohn, James I., Bundesrichter in Fort Lauderdale, ein intelligenter, drahtiger Mann aus Alabama. Fair, aber hart.

- Dunkel, Daniel, Kronzeuge der Anklage, Leiter Vermögensverwaltungsgeschäft Westliche Hemisphäre. Name und Funktion verfremdet Weil in seinem Buch – wie auch jene anderer Zeugen.

- Lerch, Susanne, Raoul Weils Ehefrau. Gemeinsam beschliessen sie, das Risiko eines Prozesses auf sich zu nehmen.

- Marcu, Aaron, einst Mafia-Jäger, nun Kopf der Verteidigung. 

- Menchel, Matthew, Ex-Staatsanwalt in Florida, der das Kreuzverhör zu seltener Perfektion gebracht hat.

- Schneider, Roland, Zeuge der Anklage, Chef des US-Geschäfts, ein kollegialer Typ, der zum Opportunisten mutiert.

- Spälti, Jürg, Kundenberater im US-Geschäft.

- Weekley, Mike, Chefankläger des Department of Justice, ein ambitionierter Mann Ende dreissig. Er erbt den Fall von James Rowling.

- Weil, Raoul, Angeklagter, Einzelkind aus einer mittelständischen Familie aus Basel, an der heimischen Universität ausgebildeter Ökonom, Berufseinsteiger bei der örtlichen Grossbank Bankverein. So weit, so gewöhnlich. Erst 2002 – der Bankverein ist mit der Bankgesellschaft zur UBS fusioniert – wird Raoul Weil Leiter des UBS Wealth Managements. So kommt das US-Geschäft zu ihm, welches 60 Mitarbeiter zählt.

Am 12. November 2008 wird für den Protagonisten dieser Story klar, dass sein Leben als Banker aus der Bahn zu geraten droht. Es ist 19.10 Uhr. Raoul Weil steht auf dem Genfer Flughafen. Sein Handy klingelt. Am Draht sein Chef: «Halt dich fest: Die Amis haben dich angeklagt!» Der Vorwurf: Verschwörung zum Zweck des Steuer­betrugs. Die Bank teilt ihm mit, er müsse «von seiner Position in Ausstand treten und bis auf weiteres nicht mehr ins Büro» kommen.

Nun fügt sich einiges unheilvoll zusammen. Im Jahr 2001 verschärfen die US-Steuerbehörden den regulatorischen Druck auf US-Steuerpflichtige, ein Qualified-Intermediary-Abkommen (QI) verpflichtet Banken wie die UBS, bei ihren US-Kunden eine Steuer einzuziehen und dieses Geld den US-Behörden zu übergeben. Die Einhaltung des Abkommens wird bei der UBS mit Argusaugen kontrolliert – die Bank weiss um die Risiken. «Wir bestanden in den kommenden Jahren sämtliche QI-Revisionsprüfungen, weshalb auch nie eine Alarmlampe aufleuchtete», schreibt Autor Weil.

Diese scheinen erst auf, als Bradley Birkenfeld, US-Bürger und UBS-Kundenberater in Weils Verantwortungsbereich, als Whistleblower «den US-Behörden Dokumente und Informationen übergab, um zu beweisen, dass seine Arbeitgeberin reichen Amerikanern systematisch dabei half, Steuern zu hinterziehen». Damit nicht genug: Im April 2008 verhaften die Amerikaner bei einem Zwischenstopp in Miami Weils leitenden Mitarbeiter Daniel Dunkel, setzen ihn im Kreuzverhör unter Druck, legen ihm eine elektronische Fessel an. Er sitzt einen mehrmonatigen Hausarrest ab. Das zermürbt jeden noch so hartgesottenen Banker. Am 13. August 2008 kehrt Dunkel in die Schweiz zurück. Als freier Mann – er hatte mit dem DoJ einen Deal abgeschlossen, der ihn verpflichtet, vor Gericht gegen Raoul Weil auszusagen.

Dieser freilich wähnt sich noch immer in Sicherheit. Weder bankinterne Inspektionen noch eine Untersuchung der Eidgenössischen Finanzmarktaufsicht (Finma) weisen Raoul Weil Verstösse gegen das QI-Abkommen nach. Die Finma erwähnt jedoch Roland Schneider, bis 2002 Leiter des US-Geschäfts. Ihm wurde vorgeworfen, er habe aktiv die Errichtung fragwürdiger Umgehungsstrukturen gefördert. Auch UBS-Kadermann Daniel Dunkel wird im Bericht erwähnt, weil er Aufsichtspflichten missachtet habe und einige seiner Untergebenen die Richtlinien nicht eingehalten hätten.

Als Raoul Weil im November 2008 angeklagt wird, ahnt er nicht, dass die US-Staatsanwaltschaft im Auftrag des DoJ exakt diese Personen – Dunkel und Schneider – als Kronzeugen gegen ihn aufbaut. Er kann noch hoffen, einen Deal ohne Schuldeingeständnis aushandeln zu können. Mehrmals versucht Weils Anwalt, dem ursprünglichen Ankläger James Rowling einen solchen abzuringen. Weil heute: «Rowling wollte nicht eingestehen, dass er mich einzig und allein angeklagt hatte, um die politische Patt­situation zu deblockieren, sprich Druck auf die Schweiz auszuüben.»

Im Februar 2009 bricht der zweite Damm – die Bank zahlt 780 Millionen Dollar Vergleichssumme und liefert der Finma mit dem Segen des Bundesrats eine erste Liste mit den Namen von 250 US-Steuerbetrügern.

Die Drohung einer Anklage gegen die UBS hatte Wirkung gezeigt – und Weil steht endgültig im Regen. «Heute ist es müssig, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, was damals hinter verschlossenen Verhandlungstüren genau abgelaufen ist. Entscheidend war: Meine grosse Hoffnung, in diesen Deal mit eingeschlossen zu sein, wurde bitter enttäuscht.» Am 31. März 2009 klingeln zwei Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes der Bank an Weils Haustüre und überbringen ihm ein Schreiben. Es ist seine Kündigung, die er sofort quittieren muss.

Dann, schreibt Weil, versinkt sein «Fall in einen schier endlosen Winterschlaf». Eine Detektei in den USA bescheinigt ihm immerhin, er werde mit «95-prozentiger Wahrscheinlichkeit von Interpol nicht gesucht» – Reisen ausserhalb der USA sollten risikolos sein.

Daran glaubt er bis am 19. Oktober 2013. Ein Samstag. Nachts um 1.30 Uhr klopft es an der Zimmertür des Hotels I Portici in Bologna (I), in dem das Ehepaar Weil abgestiegen war. «Aufmachen! Polizei!» Später erfährt Raoul Weil, dass er doch zur Fahndung ausgeschrieben war und der Nachtportier ihn verpfiffen hatte – fünf Jahre nach der Anklage. Es folgen Monate im Knast. Zunächst 56 Tage im Hochsicherheitsgefängnis in Bologna, nach der Auslieferung in die USA im Broward County Jail in Fort Lauderdale. Später steht er, mit einer Fussfessel versehen, unter Hausarrest.

Fünf Tage vor Prozessbeginn, am 10. Oktober 2014, stellt Anwalt Aaron Marcu seinem Mandanten die Frage: Wollen wir mit dem DoJ einen Vergleich abschliessen? Keine schlechte Idee angesichts der Tatsache, dass das US-Justizdepartement 95 Prozent vergleichbarer Fälle für sich entscheidet. Raoul Weil ist also Mister 5 Prozent, der Mann mit der geringen Gewinnchance. Er bespricht sich mit seiner Frau Susanne und gibt seinem Anwalt die Antwort: «Nach zwei Monaten Knast in Italien ist Gefängnis völlig unakzeptabel. Ich akzeptiere kein Verbrechen, sondern maximal ein Kleinvergehen nach US-Standard. Zur Not würde ich mich mit einer Geldstrafe abfinden. Ich war nie kriminell und lasse mich auch jetzt nicht kriminalisieren.» Das DoJ macht ein letztes Angebot: Ein Jahr und einen Tag Knast – das würde Weil zum Verbrecher stempeln.

So wird der Prozess unausweichlich. Für den Angeklagten präsentiert sich die Lage wie folgt: Seine Anwälte haben fiktive Gerichtsverfahren mit fiktiven Geschworenen durchgeführt und damit den Ernstfall geprobt. In keinem Fall hat es ein eindeutiges Verdikt gegen den Angeklagten gegeben. Die Chancen auf einen Freispruch oder zumindest einen Vergleich sind also intakt.

Auf der anderen Seite steht der mächtige Ankläger des DoJ, der praktisch immer gewinnt und seine Hauptzeugen allesamt gekauft hat. Daniel Dunkel, Kronzeuge der Anklage, hat freies Geleit und Straffreiheit für eigene Verfehlungen erhalten. Roland Schneider, der zweite Hauptzeuge, hat mit dem DoJ in einem schmutzigen Deal mildernde Umstände ausgehandelt. Und selbst der kleine Kundenberater Jörg Spälti erhält, als der Prozess längst läuft, ­einen Deal «zur Nicht-Strafverfolgung». Dann ist da der möglicherweise nicht topmotivierte Chefankläger Mike Weekley, der den Fall geerbt hat, nachdem James Rowling, der erste Ankläger, in die Privatwirtschaft abgewandert war.

Die Zeugen der Anklage sehen sich vor das Dilemma gestellt, den Angeklagten belasten und gleichzeitig unter Eid die Wahrheit sagen zu müssen. Können dies Weils Anwälte ausnützen und die Glaubwürdigkeit der Zeugen vor den zwölf Geschworenen zerstören?

15. Oktober 2014, erster Prozesstag. Roland Schneider, bis 2002 Chef des US-Geschäfts, steht für drei Tage im Zeugenstand. Er schwärzt den Angeklagten an, bestätigt aber, dass Weil mit den kriminellen Strukturen zwecks Steuerbetrug bei den Kundenberatern nichts zu tun habe. Verteidiger Matthew Menchel nimmt Schneider im Kreuzverhör virtuos in die Mangel. Frage: «Hatte Herr Weil etwas mit jenen Strukturen zu tun?» Antwort: «Nein, Sir.» Nächste Salve: «Herr Schneider! Sie allein haben diese Verbrechen begangen! Nicht Herr Weil! Haben Sie in Ihrer Einvernahme beim DoJ zugegeben, Kunden zum Steuerbetrug animiert zu haben?» Antwort: «Ja, Sir, aber wir wussten alle vom Steuerbetrug.» Replik des Verteidigers: «Nicht wir, Herr Schneider. Wir nicht! Sie haben die Kundenberater dazu animiert!» Dieser Zeuge der Anklage ist zerstört.

Eine Woche später steht der Kundenberater Jürg Spälti im Zeugenstand. Diesmal treibt Aaron Marcu den Zeugen in die Enge. «Haben Sie aktiv gegen US-Wertschriftengesetze ver­stossen?» Antwort: «Ja.» – «Haben Sie US-Kunden aktiv dabei geholfen, Steuern zu hinterziehen?» – «Ja, das habe ich.» – «Als die Bank 2007 beschloss, das grenzüberschreitende US-Geschäft einzufrieren, kündigten Sie und folgten Roland Schneider zu einer anderen Bank. Haben Sie da weitere Kunden zur Steuerhinterziehung animiert?» – «Ja, aber nur bis Mitte 2009.» Auch dieser Zeuge ist zerstört.

Tage später nimmt Matthew Menchel den Kronzeugen Daniel Dunkel ins Kreuzverhör: «Anfang Juli 2008 machten Sie mit dem DoJ einen Deal, wurden zum Kronzeugen, erhielten Strafverfolgungsverzicht?» – «Ja, solange ich die Wahrheit sage.» – «Haben Sie sich bei der Bank je über unversteuerte US-Kunden beschwert?» – «Nein.» – «Haben Sie vor Ihrer Verhaftung je mit dem DoJ Kontakt aufgenommen, um sich über Kunden mit unversteuerten Konten zu beschweren?» – «Nein.» Zum Richter gewandt meint der Anwalt: «Keine weiteren Fragen, Euer Ehren.»

Die gekauften Zeugen der Anklage sind allesamt zerstört – und dennoch rechnet Raoul Weil noch immer mit einer mehrjährigen Gefängnisstrafe. Bis zu dem Zeitpunkt, als während des Schlussplädoyers ein Ankläger der Falschaussage überführt wird, der Richter unterbricht und den Sachverhalt richtigstellt – sehr ungewöhnlich in einem amerikanischen Gerichtssaal. «Das DoJ», kommentiert Weil, «hing in den Seilen.»

An diesem 3. November 2014 gegen 15.15 Uhr ziehen sich die zwölf Geschworenen zurück. Nach 15 Minuten Pause und nur 45 Minuten Beratung verkündet der Sprecher der Geschworenen das Urteil: «Unschuldig!»

Weil schreibt: «Ich sprang auf, umarmte und küsste Susanne, die von Weinkrämpfen geschüttelt wurde. Dann fiel ich meinen Anwälten in die weit geöffneten Arme. Matthew weinte ebenfalls, und Aaron war schlicht sprachlos.»

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