Was für eine surreale Welt: entvölkerte Bahnhofshallen, verlassene Pausenplätze, geschlossene Fussballstadien und eine Flughafenregion, in der man die Vögel zwitschern hört, weil die Flugzeuge fast ganz verstummt sind. Leere, Stille und viel Platz – was wir bis eben noch in der Edward-Hopper-Ausstellung im Beyeler-Museum auf Leinwand sehen konnten, erleben wir jetzt in real life.
Bis vor zwei Wochen lebten wir in einer Gesellschaft, in der wir uns bis zur Erschöpfung abstrampelten. Wir, die Meister der Globalisierung, gewohnt, an so vielen Orten gleichzeitig zu sein. Und jetzt der Vollstopp, der Lockdown. Wir müssen von jetzt auf gleich lernen, an einem Ort stehen zu bleiben: in unserem Zuhause. Wir gehen auf Distanz zu anderen Menschen, lullen uns in den eigenen vier Wänden ein, wo wir uns sicher fühlen. Klar, wir können auch von hier aus per Skype, Whatsapp und Telefon mit anderen kommunizieren, doch schon nach wenigen Tagen spüren wir: Da fehlt etwas.
Was genau – darüber haben wir mit Intellektuellen aus verschiedenen Disziplinen gesprochen: dem Ökonomen Bruno S. Frey, der Psychoanalytikerin Jeannette Fischer und dem Schriftsteller Peter Stamm. Wir wollten von ihnen wissen, was dieser Rückzug ins Private mit uns als Menschen, als Familie und als Gesellschaft macht. Fast alle haben wir in ihrem Zuhause besucht. Fast, weil sich die Lage während der Arbeit an dieser Geschichte dramatisch verändert hat.
Am Freitag, 13. März gibt der Bundesrat um 14.30 Uhr vor den Medien die Schliessung der Schulen bekannt. Restaurants, Clubs und Bars dürfen nur noch maximal fünfzig Gäste reinlassen. Und Wirtschaftsminister Guy Parmelin verspricht «rasch und unbürokratisch» zehn Milliarden Franken für die Wirtschaft. Bundesrätin Simonetta Sommaruga sagt: «Der Bundesrat kümmert sich um euch.»
Homeoffice kann die Loyalität abschwächen
Am anderen Tag stehen wir in der Zürcher Altstadt vor der Haustür von Bruno S. Frey. Am Morgen hat er noch eine Vorlesung über ökonomische Aspekte der Bundesverfassung gehalten – auch wenn er mit 78 Jahren zur Risikogruppe gehört. Jetzt zeigt uns der renommierte Glücksforscher in seiner Wohnung seinen Lieblingsarbeitsplatz: das Stehpult am Fenster mit Blick auf die Limmat.
Bruno S. Frey (78) ist einer der renommiertesten Ökonomen der Schweiz. Der gebürtige Basler, der seit Jahrzehnten in Zürich lebt, ist als ständiger Gastprofessor an der Uni Basel tätig. Freys Spezialgebiet ist die Anwendung der Ökonomie auf nichtwirtschaftliche Bereiche. In seiner Glücksforschung hat er untersucht, was es braucht, damit die Menschen mit ihrem Leben zufrieden sind.
Bruno S. Frey (78) ist einer der renommiertesten Ökonomen der Schweiz. Der gebürtige Basler, der seit Jahrzehnten in Zürich lebt, ist als ständiger Gastprofessor an der Uni Basel tätig. Freys Spezialgebiet ist die Anwendung der Ökonomie auf nichtwirtschaftliche Bereiche. In seiner Glücksforschung hat er untersucht, was es braucht, damit die Menschen mit ihrem Leben zufrieden sind.
Eine grosse Sorge treibt ihn in diesen Tagen um: Als Ökonom denke er an die Wirtschaft. Und auch wenn seine Meinung unpopulär sei, müsse er sagen: «Wegen der Massnahmen des Bundesrats sieht es besonders für Kleinbetriebe düster aus.» Ein Barbetreiber oder selbständiger Coiffeur wisse nicht, wie er an die Soforthilfen herankomme, und wenn er bis zur aktuellen Krise gerade so durchgekommen sei, würden ihm auch die paar Tausend Franken nicht helfen, die er bekomme. «Das Abwürgen der Wirtschaft wird vielen von ihnen die Existenz kosten.»
Den Stillstand bekommt auch Frey zu spüren, wenn auch weniger dramatisch. Bis zum Sommer sind alle Konferenzen abgesagt. Dafür hat er Zeit zum Lesen. Er greift nach dem Buch «Langsame Heimkehr» von Schriftsteller Peter Handke. Nichts für Ungeduldige. Die Sätze ziehen sich über drei Seiten. «Zuerst dachte ich, jesses, aber jetzt, wo ich Zeit habe, komme ich immer besser rein.»
Dauerhaftes Homeoffice sieht Frey kritisch: «Das Bedürfnis nach menschlicher Wärme kann man nicht vollkommen durch digitale Kommunikation auffangen.» Soziale Kontakte sind wichtig für unsere Zufriedenheit, das hat er in seiner Erforschung des Glücks herausgefunden. Genauso wie eine geregelte Tätigkeit zu haben und Anerkennung innerhalb des Unternehmens zu bekommen. Wer seine Arbeit verliert oder aussetzen muss, wird unzufrieden, auch wenn das Einkommen gesichert ist.
Durch die Beziehung zu den Menschen am Arbeitsplatz entsteht Vertrauen. Und dieses sei in einem Unternehmen sehr wichtig, ohne dieses entstünden unnötige riesige Kosten. «Solidarität und Loyalität nehmen ab», so der Ökonom.
Im Bericht «Innentäter in Unternehmen» schreibt das deutsche Bundeskriminalamt: Fehlende Loyalität hängt mit Betrügereien durch gewisse Arbeitnehmer zusammen. Wer sich nicht ernst genommen und zugehörig fühlt, setzt eher ein privates Mittagessen auf die Spesenrechnung oder überweist im Extremfall sogar Firmengelder auf sein Konto. Unternehmen weltweit verlieren deswegen fünf Prozent ihrer Umsatzerlöse – das schätzt die amerikanische Non-Profit-Organisation Association of Certified Fraud Examiners.
Bruno S. Frey ist sein eigener Chef. Das verschafft ihm viele Freiheiten. Auf einer Zufriedenheitsskala von 1 bis 10 beschreibt er sich als sehr nahe bei 10. Hat er keine Bedenken wegen Corona? «Nein. Ich treffe nach wie vor Menschen, die mir wichtig sind. Und irgendwann stirbt man an ‹irgendöpis Cheibs›.»
Schon am Sonntag verbreitet sich die Meldung, dass in der Schweiz innerhalb von 24 Stunden 800 neue Corona-Infizierte aufgetreten sind. 24 sind gestorben.
Am Montag, 16. März greift der Bundesrat durch und gibt um 17 Uhr vor laufenden Kameras bekannt, dass alle Geschäfte ausser Lebensmittelläden und Apotheken schliessen müssen. Gesundheitsminister Alain Berset sagt: «Das Leben geht weiter, langsamer und auf engerem Raum.»
Angst ist ein schlechter Ratgeber
Am Dienstagmorgen klingeln wir bei Jeannette Fischer. Sie gehört mit ihren 66 Jahren zur Risikogruppe – wir haben mit einer kurzfristigen Absage gerechnet. Doch die Psychoanalytikerin und Buchautorin denkt nicht daran. Der «verordnete Rückzug ins Zuhause» sei eine von Angst getriebene Reaktion des Bundesrats. «Angst ist ein schlechter Ratgeber», sagt sie in ihrem Wohnzimmer in Zürich. Wir sitzen in grossem Abstand zueinander am Esstisch, vor uns steht ein Krug mit heissem Zitronenwasser. Vitamin C zur Stärkung, das können wir jetzt gut gebrauchen.
Jeannette Fischer (66) arbeitete 30 Jahre lang mit eigener Praxis in Zürich. Daneben hat sie sich immer auch für andere Projekte engagiert: In einem Film zeigte sie das Trauma von Verdingkindern. Für ein Buch interviewte sie die berühmte Performance-Künstlerin Marina Abramovic. Zuletzt erschien von ihr das Buch «Angst. Vor ihr müssen wir uns fürchten». Fischer hat einen erwachsenen Sohn und einen Enkel. Sie lebt in Zürich.
Jeannette Fischer (66) arbeitete 30 Jahre lang mit eigener Praxis in Zürich. Daneben hat sie sich immer auch für andere Projekte engagiert: In einem Film zeigte sie das Trauma von Verdingkindern. Für ein Buch interviewte sie die berühmte Performance-Künstlerin Marina Abramovic. Zuletzt erschien von ihr das Buch «Angst. Vor ihr müssen wir uns fürchten». Fischer hat einen erwachsenen Sohn und einen Enkel. Sie lebt in Zürich.
Fischer sagt, dass die Isolation die Angst, die uns wegen Corona umtreibt, verstärkt. Depressionen, psychische und physische Gewalt und sogar Suizide – all das werde jetzt zunehmen. «Die Situation wird destruktiv werden. Die Polizei wird zum Einsatz kommen müssen.»
Für uns ein Schreckensszenario, in China ist es Realität. Nach der Wiedereröffnung der zentralchinesischen Standesämter klagten diese über den Ansturm. Termine für Scheidungen seien über Wochen ausgebucht. Frauenrechtsorganisationen berichten auf dem sozialen Netzwerk Weibo, dass viel mehr Frauen wegen gewalttätiger Väter oder Ehemänner bei ihnen Hilfe suchten.
Auch in der Schweiz kommen Paare und Familien unter Druck. Die Eltern haben Angst vor dem Virus, vor dem Job- oder Geschäftsverlust, und sie sind nun mit den Kindern alleine. Normalerweise würde der unmittelbare Kontakt zu Grosseltern, Arbeitskollegen, Freunden und Nachbarn die Ängste abschwächen, sagt Fischer. «Doch momentan wird jedes Gegenüber zu einem potenziellen Feind.»
Die Menschen suchten jetzt auch Sündenböcke. Einer ihrer Enkel wurde vor einigen Wochen mit Husten wieder von der Schule heimgeschickt. Nicht weil er ein Verdachtsfall gewesen wäre. «Die anderen Kinder stigmatisierten ihn.»
Die Angst mache uns ohnmächtig und gebe anderen Macht über uns. Der Ruf nach einer straffen Führung und starken Hand nimmt zu. «Das ist gefährlich.» Sebastian Kurz sei von einer Zeitung schon als der «starke Mann in Österreich» bezeichnet worden.
Zum Schluss sagt Fischer: «Bern hätte auch Psychoanalytiker, Ökonomen, Pädagogen, Soziologen konsultieren sollen, nicht nur Epidemiologen.»
Die Schweizer Mentalität ändert sich
Ein paar Stunden später fahren wir im dünn besetzten Zug Richtung Winterthur – in die Heimatstadt des Schriftstellers Peter Stamm. Im Stadtgarten setzen wir uns mit ihm auf eine Sitzbank. Zu Hause gibt der 57-Jährige generell keine Interviews. Es wäre dort gerade auch eng. Jetzt, wo seine beiden Söhne nicht in die Schule gehen können.
Peter Stamm (57) ist eine prägende Figur der Schweizer Literaturszene. Für seinen Roman «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» erhielt er 2018 den Schweizer Buchpreis. Im Thurgau aufgewachsen und zum Kaufmann ausgebildet, begann er seine Schriftstellerkarriere 1998 mit dem Roman «Agnes». 2016 kam die Verfilmung in die Kinos. Er lebt mit seiner Familie in Winterthur.
Peter Stamm (57) ist eine prägende Figur der Schweizer Literaturszene. Für seinen Roman «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» erhielt er 2018 den Schweizer Buchpreis. Im Thurgau aufgewachsen und zum Kaufmann ausgebildet, begann er seine Schriftstellerkarriere 1998 mit dem Roman «Agnes». 2016 kam die Verfilmung in die Kinos. Er lebt mit seiner Familie in Winterthur.
Eigentlich wäre er jetzt an einem Workshop in Bordeaux (F). Nun fährt er nicht viel weiter als nach Zürich, wo er seine Schreibstube hat – solange die Züge noch fahren. Er arbeite aber sowieso weniger. «Unruhe ist ganz schlecht fürs Schreiben.» Ihn beschäftigt, dass seine Partnerin als selbständige Modedesignerin nicht weiss, wie es mit ihrem Geschäft weitergehe.
Die Aussichten sind düster, der Intellektuelle will es aber nicht dabei bewenden lassen. «Solche Naturkatastrophen sind gut für den Zusammenhalt unter den Menschen», sagt er. In diesen Geschichten gebe es keinen Bösewicht. Keiner, der die Gesellschaft spalte. Die Menschen kämpften sich gemeinsam aus der Not heraus.
Was Stamm sagt, zeigt die noch nie dagewesene Solidaritätswelle. Überall organisieren sich Helferinnen und Helfer, gründen Facebook-Gruppen wie «Bärn hiuft», «Gärn gschee – Basel hilft», «Gern gscheh – Tsüri hilft». Oder hängen in Hauseingängen Zettel auf, um Botengänge oder Kinderhütedienste anzubieten. Und viele von uns standen in den letzten Tagen auf dem Balkon, um zu applaudieren – als Dankeschön an die Ärzte und Pflegeleute.
Bei 9/11 war das anders, sagt Stamm. Der Bösewicht hiess Osama bin Laden. Für die meisten waren die Muslime als Kollektiv schuld. In London erlebte er damals, wie die Bevölkerung Angst vor allen Muslimen in der Stadt hatte. Und wie sich diese wiederum ausgegrenzt fühlten. «Es herrschte Weltuntergangsstimmung.» Er habe monatelang nicht schreiben können.
Ihm fällt noch etwas auf: «Wir reden mehr miteinander.» Spaziergänger fragten ihn im Park, ob er auch Homeoffice mache. Und er erkundige sich bei einer Verkäuferin, ob sie nachkomme mit dem Regaleauffüllen. Smalltalk. Wir Schweizer tun uns sonst schwer damit. «Danke», «bitte», «gern geschehen», «darf es sonst noch etwas sein?» – mehr als Floskeln tauschen wir nicht aus. «Vielleicht verändert sich unsere Mentalität.»
Peter Stamm spürt jetzt schon, dass die Ereignisse in seine Arbeit einfliessen. Weil sie zufällig perfekt zu einer Geschichte passen: ein scheuer Mann, der sehr zurückgezogen gelebt hat und in dem Moment, in dem sich alle anderen in ihre Häuser zurückziehen, die Chance hat, rauszugehen. «Weil die Welt jetzt leer ist.»
Am Donnerstag, 19. März verhängt Uri als erster Kanton eine Ausgangssperre für über 65-Jährige. Es sickert durch, dass die Bundesräte über eine landesweite Ausgangssperre debattieren. Am Freitag entscheiden sie sich dagegen. Bundesrat Alain Berset sagt vor den Medien: «Es ist nicht die Ausgangssperre, die uns schützt, sondern unser Verhalten.»
Der Rückzug ins Private gabs schon während der Biedermeier-Zeit (1815 bis 1848). Nach der Entmachtung Napoleons setzten die europäischen Königshäuser auf Zensur und Repression. Die Bevölkerung suchte Zuflucht in der Familie, in Traditionen und im Kunsthandwerk. Plötzlich interessierte man sich für Architektur, Innendekoration, Malerei, Musik und Kleidung. In der Schweiz entwickelte sich deshalb im Appenzellerland das Seidenbeuteltuch-Handwerk. In den 1980er-Jahren machte die amerikanische Marktforscherin Faith Popcorn den Begriff «Cocooning» bekannt. Heute heisst der gleiche Trend «Hygge». Die Mechanismen sind die gleichen: Wem die Welt draussen zu kompliziert, stressig und uninteressant wird, der zieht sich in seinen kleinen, überschaubaren Lebenskreis zurück. Und macht aus dem Badezimmer mit Duftkerzen eine Wohlfühloase, aus dem Schlafzimmer durch Feng Shui einen Ort der Ruhe und aus dem Wohnzimmer mit riesigem Flatscreen und Soundanlage ein Heimkino.
Der Rückzug ins Private gabs schon während der Biedermeier-Zeit (1815 bis 1848). Nach der Entmachtung Napoleons setzten die europäischen Königshäuser auf Zensur und Repression. Die Bevölkerung suchte Zuflucht in der Familie, in Traditionen und im Kunsthandwerk. Plötzlich interessierte man sich für Architektur, Innendekoration, Malerei, Musik und Kleidung. In der Schweiz entwickelte sich deshalb im Appenzellerland das Seidenbeuteltuch-Handwerk. In den 1980er-Jahren machte die amerikanische Marktforscherin Faith Popcorn den Begriff «Cocooning» bekannt. Heute heisst der gleiche Trend «Hygge». Die Mechanismen sind die gleichen: Wem die Welt draussen zu kompliziert, stressig und uninteressant wird, der zieht sich in seinen kleinen, überschaubaren Lebenskreis zurück. Und macht aus dem Badezimmer mit Duftkerzen eine Wohlfühloase, aus dem Schlafzimmer durch Feng Shui einen Ort der Ruhe und aus dem Wohnzimmer mit riesigem Flatscreen und Soundanlage ein Heimkino.