Der gnadenlos kalkulierte Vierfachmord, den der Zürcher Baupolizeichef Günther Tschanun an seinen Mitarbeitern verübte, bewegt die Schweiz noch immer. Beim Sichten der Anklageschrift stiess SonntagsBlick-Gerichtsreporter Viktor Dammann (66) auf den Namen eines Mannes, der mit seiner Gattin Irina (43) seit Jahren für schrille Auftritte sorgt: Baulöwe Walter Beller (67). 30 Jahre lang schwieg er über den schlimmsten Tag seines Lebens.
SonntagsBlick: Herr Beller, was erlebten Sie am 16. April 1986?
Walter Beller: Zu der Zeit war es so, dass man morgens von halb acht bis neun Uhr beim Kreis-Architekten M. F. * über Projekte und Bauprobleme diskutieren konnte. Das waren wichtige Besprechungen, denn damals hatte dieser noch Entscheidungskompetenz. Was der Kreis-Architekt sagte, galt. Termine konnte man keine machen: Wer zuerst da war, kam zuerst dran. Ich musste noch einen Moment warten. Also setzte ich mich auf das Bänkli vor F.’s Büro. Nach ein paar Minuten kam Günther Tschanun, F.s Chef. Er öffnete die Tür, schaute rein, schloss sie wieder und ging weg.
Wie kam Ihnen das vor?
Als würde Tschanun die Situation haargenau auskundschaften. Er klopfte nicht an. Gut, das musste er als F.s Chef auch nicht. Er sprach kein Wort, schaute sich innen um, sah, dass F. in einer Besprechung war und ich draussen sass.
Haben Sie ihn gekannt?
Persönlich nicht. Ich wusste natürlich, wer er war. Aber man ahnte als Aussenstehender nicht, was für ein schlimmes Klima im Baudepartement herrschte. Tschanun war ein Nobody in der Branche. Ab und zu hörte ich, er sei eine Pfeife, weil er Projekte verunmöglichte, in die Länge zog oder in den Sand setzte. Als ich vor dem Büro sass und er an mir vorbeiging, gabs gegenseitig ein kurzes Grüezi. Mehr nicht.
Was passierte dann?
Nach ein paar Minuten ging ich rein. M. F. und ich sassen uns an seinem Besprechungstisch gegenüber. Ich breitete meine Baupläne vor ihm aus.
Wie lange dauerte es, bis Tschanun wieder kam?
Etwa zehn Minuten. Ich zeichne Ihnen jetzt auf, was dann genau passierte ...
Walter Beller nimmt eine Papierserviette, beginnt zu skizzieren und erzählt:
Also, Tschanun kam rein – wieder ohne anzuklopfen – und ging zu F.s Arbeitstisch rechts von der Tür. Wir sassen links am Besprechungstisch an der Wand. Die Distanz zwischen den beiden Tischen war etwa eineinhalb Meter. Die Stimmung war irgendwie komisch, doch ich konnte sie nicht einordnen. Tschanun hatte uns beiden erst den Rücken zugedreht. F. und ich sprachen weiter. Plötzlich drehte sich Tschanun um, nahm einen Revolver aus seiner Jacke, hielt ihn F. an die Schläfe und schoss. Der Lauf war etwa fünf Zentimeter von seinem Kopf entfernt. Tschanun sagte die ganze Zeit keinen Ton.
Was ging in Ihnen vor?
Schock! F.’s Kopf war auf meine Pläne gefallen. Es dauerte noch zwei Pulsschläge, dann schoss Blut aus seiner Schläfe. Ich war sprachlos. Es ging alles so schnell und doch war es, als würde die Zeit stillstehen.
Was tat Tschanun?
Er schaute nochmals emotionslos auf M. F. Es kam mir vor, als würde er schauen, ob alles in Ordnung war, ob er wirklich tot ist. Dann ging er rückwärts, ohne ein Wort zu sagen, zur Tür, schaute mich an, zielte mit dem Revolver auf mich. Dann ging er raus und machte die Tür hinter sich zu.
Walter Beller atmet tief durch, nimmt einen Schluck Espresso.
Und Sie?
Nach dem Schock kam die Todesangst. Ich sass wohl mit offenem Mund da. Zehn oder zwanzig Sekunden lang. Dann machte es «Klick» bei mir. Ich rannte zur Tür und zog sie fest zu. Ich wusste ja nicht, ob er zurückkommt und denkt: Da hab ich einen vergessen! Ich wollte aus dem Fenster raus, das Büro war im Parterre, doch die Fenster waren vergittert. Als ich an der Tür stand, hörte ich, dass im oberen Stock geschossen wurde. Ich öffnete kurz, schaute raus und rannte ins Sekretariat. Schrie, man habe F. erschossen, sie sollen sofort die Polizei rufen. Die drei Sekretärinnen hatten gar nichts mitbekommen. Das Büro lag in einem geschlossenen Raum.
Wie lange dauerte es, bis die Polizei kam?
Das ist jetzt kein Ruhmesblatt für die Polizei: Es ging eine Ewigkeit, obwohl die Stadtpolizei gerade gegenüber liegt. Doch anscheinend war die Kantonspolizei zuständig. Die kam dann nach etwa zwanzig Minuten mit rund zwanzig Mann in Vollmontur und Maschinenpistolen, sie sperrten alles ab und schienen total überfordert.
Was machten Sie?
Ich stand etwa eine Stunde herum, niemand redete mit mir. Dabei war ich der Einzige, der dieses Massaker hautnah miterlebt und überlebt hatte. Zudem war mein Überleben einer der Beweise, dass es kein Amoklauf war, sonst hätte er auch mich umgebracht: Tschanun hatte eiskalt geplant, seine Untergebenen hinzurichten.
Wir hören zum ersten Mal, dass Tschanun erst schoss, als er beim zweiten Mal das Büro betrat! Das steht so nicht in der Anklageschrift. Haben Sie das damals nicht erzählt?
Es ging bei den Einvernahmen nur darum, was effektiv geschah und nicht, ob es eine Vorgeschichte gab. Ich wurde nicht gefragt. Es war für mich klar, dass Tschanun alles geplant hatte. Er hatte erst einen Rundgang gemacht, die Situation abgecheckt. Nach mir war niemand auf dem Bänkli. Hätte er vorher geschossen, hätte ich ihn draussen aufhalten können, aber er wollte ja noch in den oberen Stock und sein Massaker weiterführen.
Sie sagen, Sie standen eine Stunde herum – und nichts passierte. Das tönt unglaublich!
Ja, das war es auch! Es ging zu wie in einem Hühnerhaufen. Klar, so was ist in der Schweiz zuvor noch nie passiert ... Aber trotzdem! Niemand kam auf die Idee, überhaupt zu fragen, wer bei der Polizei hatte anrufen lassen. Sonst hätten sie wohl mit mir gesprochen. Nachdem ich eine Stunde herumgestanden bin, ging ich. Aufgeboten wurde ich erst später.
Was haben Sie danach gemacht?
Ich ging in mein Büro. Natürlich konnte ich nicht mehr arbeiten. Aber es wäre für mich das Dümmste gewesen, mich ins Bett zu verkriechen oder mich sonst zurückzuziehen. Ich musste für mich die Strukturen aufrechterhalten, mich beschäftigen und ablenken. Der Abend verlief eher problematisch.
Inwiefern?
Ich kam heim zu meiner damaligen Ehefrau und meinen Kindern, sie waren noch klein, erst vier und sechs Jahre alt. Ein Drama, wie ich es erleben musste, kann man nicht einfach erzählen. Für die anderen ist es, als würde man einen Film beschreiben, den man alleine gesehen hat. Ich habe mit meinen Kindern später mal darüber gesprochen, auch meine Frau Irina weiss Bescheid. Doch eben, nachfühlen kann es niemand, der nicht dabei war.
Gab es eine Gegenüberstellung mit Günther Tschanun?
Nein, die war auch nicht nötig, er hat ja nichts bestritten. Und ich war auch nicht erpicht darauf.
Hatten Sie mit F.s Witwe Kontakt?
Ich sprach mit ihr und bot ihr Hilfe an. Sie wurde ja von der Stadt total im Stich gelassen. Ihr 22-jähriger Sohn musste alles selbst organisieren und bezahlen. Sie hat sich nie bei mir gemeldet. Die Beerdigung fand wohl im kleinen Kreis statt. Ich wollte mich da nicht reindrängen.
Haben Sie die anderen drei Erschossenen gekannt?
Ja, doch am besten M. F., der für den Zürcher Kreis 1 und B., der für den Kreis 4 zuständig war. Ich baute primär in diesen Kreisen. Das Glück für B. war, dass er an dem Tag noch in den Ferien weilte.
Haben Sie oft geweint, weil Sie diese Hinrichtung miterleben mussten?
Ich weine ab und zu. Innerlich bin ich sehr sensibel.
Wissen Sie noch, welche Kleidung Tschanun trug?
Nein. Aber ich weiss noch genau, welche Pläne ich dabei hatte und sehe das Blut darauf vor mir.
Hat Sie das Massaker ängstlicher gemacht oder sonst irgendwie verändert?
Ich stand lange unter Schock. Schoss in diesem Jahr beim obligatorischen Schiessen nur daneben. Dabei war ich eigentlich ein guter Schütze. Doch ich brachte nicht mal mehr das Minimum fertig, zitterte bei jedem Knall. Und ich konnte sicher zehn Jahre lang keinen Krimi sehen, bei dem jemandem in den Kopf geschossen wurde. Kaum entwickelte sich eine Szene dorthin, musste ich die Augen schliessen, die Ohren zuhalten oder den Sender wechseln.
Brauchten Sie jemals psychologische Hilfe?
Nein, aber ich hatte liebe Freundinnen (lacht).
Wenn Sie Ihre heutige Gefühle über das Geschehen auf einer Skala von 0 bis 10 angeben müssten, wo stehen sie?
Bei null. Ich weiss noch alles, aber es belastet mich nicht mehr. Ich habe keine emotionale Erinnerung daran. Ich darf ein sehr erfülltes, glückliches Leben leben. Der Rest ist Vergangenheit.
Sie und Ihre Frau sind fester Bestandteil der Boulevard-Berichterstattung, Sie geben vieles von sich preis. Über dieses Drama aber haben Sie noch nie gesprochen. Weshalb?
Es gibt das Recht auf Vergessen. Ich habe mich immer geweigert, ein Opfer zu sein. Die Hinrichtung seiner Mitarbeiter durch Tschanun hat mich sicher die ersten zehn Jahre, teils auch im Halbschlaf, verfolgt. Nun, wo sich seine Schreckenstat bald zum 30. Mal jährt, kommen natürlich wieder die Erinnerungen an die Ereignisse hoch. Da es mich nicht mehr belastet, kann ich nun auch darüber sprechen. Die ersten zehn Jahre war dies unmöglich.
Wenn Sie die Möglichkeit hätten, Günther Tschanun heute zu treffen, würden Sie das wollen?
Nein. Ich will von ihm nichts wissen. Er lebt unter falschem Namen. Er hat sicher auch einiges durchgemacht. Ich denke nicht, dass die Leute im Knast mit ihm sehr freundlich umgegangen sind.
Die Öffentlichkeit hat ihn lange als Mobbing-Opfer betrachtet, das sich wehrte. Ein Irrtum.
Das ist ja das Verrückte: Tschanun war der Chef seiner Opfer. Ein Typ, den man in der Branche nicht gross wahrnahm. Er hat seine Untergebenen regelrecht exekutiert.
Waren Sie jemals wieder in dem Büro, in dem das Drama geschah?
Die letzten zwanzig Jahre nicht. Auch wenn alles umorganisiert, das Sekretariat nun offen ist. Wenn ich nicht muss, geh ich nicht hin. Es ist auch nicht mehr so, dass der Kreis-Architekt wie damals das Sagen hat. Manchmal muss ich zur Denkmalpflege. Wenn ich kann, delegiere ich auch das.
Herr Beller, wie fühlen Sie sich jetzt, nachdem Sie ausführlich über die Ereignisse des 16. April 1986 sprechen konnten?
Ganz gut. Was ich erlebt habe, ist verarbeitet. Es ist einfach etwas, das passiert ist.
* Name der Redaktion bekannt
Der Fall Tschanun
Am 16. April 1986 richtete der damalige Chef der Zürcher Baupolizei, Günther Tschanun, vier seiner Untergebenen hin und verletzte einen fünften schwer. Das Arbeitsklima war offensichtlich massiv vergiftet. Tschanun konnte vorerst fliehen, wurde aber drei Wochen später in Frankreich geschnappt. Das Obergericht verurteilte Tschanun wegen vorsätzlicher Tötung zu 17 Jahren Zuchthaus. Es argumentierte, die Opfer trügen eine Mitschuld, weil sie ihren Chef gemobbt hätten. Das Bundesgericht verwarf diese Argumentation und verurteilte Tschanun wegen Mordes und Mordversuchs zu 20 Jahren Zuchthaus. Im Knast lernte Tschanun Gärtner. lm Jahr 2000 wurde er entlassen und trägt heute einen anderen Namen.