Die Albiner klatschen. Sie pfeifen. Einer jauchzt sogar: An der Urversammlung in der stickigen Mehrzweckhalle lag vergangene Woche etwas in der Luft, das selten ist in Bergdörfern – Hoffnung.
Dabei geht es um einen Akt der Verzweiflung: Albinen beschloss mit deutlichem Mehr, Menschen zu bezahlen, damit sie hierher ziehen. 70'000 Franken, an strenge Auflagen gebunden, soll eine fünfköpfige Familie erhalten.
So hoch ist also das Schmerzensgeld dafür, in einem Dorf zu wohnen, das einen langen Arbeitsweg und keine Schule bietet, weder Bank noch Post hat und einen Dorfladen, der darum bettelt, nicht nur berücksichtigt zu werden, wenn das Brot ausgeht.
Die Walliser Gemeinde steht für viele Dörfer in den Alpen. Dörfer, die schrumpfen. Dörfer ohne Kinder. Dörfer, aus denen sogar die Alten wegziehen, weil die Grundversorgung immer spärlicher wird. Es sind die gleichen Dörfer, welche die Schweiz in Tourismuskatalogen präsentiert – beschaulich, urchig und immer irgendwo eine handbeschriebene Tafel an der Strasse, die Alpkäse anpreist.
Innovative Kräfte fehlen
Während alle über die Zuwanderung streiten, reden die Bergler über Abwanderung. Obwohl, reden mögen manche gar nicht mehr. Im Urner Meiental – 60 Bewohner, keine Schule, kein Laden, keine Bank, keine Post, kein Bus – sagt eine der wenigen Mütter mit schulpflichtigen Kindern, dass sie es satthabe: So viel Lebenszeit habe sie dazu verwendet, gegen die Abwanderung anzukämpfen. Was hat es gebracht? Nichts ... «Ich bin müde.»
Der Schulbus lädt drei Kinder aus. Mit Energydrinks in der Hand gehen sie heim durch den Schnee. Im nächsten Monat wird es die Sonne nicht mehr ins enge Tal schaffen und nicht mehr durch das Kirchenfenster mit der Inschrift scheinen: «Bittet für die Jugend!»
Dominik Siegrist (60, Bild) kennt die Alpen. Der Professor der Hochschule Rapperswil hat sie durchquert, von Wien nach Nizza, 1800 Kilometer zu Fuss. Interessant: Siegrist hat es zweimal getan. Einmal vor 25 Jahren und einmal diesen Sommer. Er kann also vergleichen. Sein Fazit: «Die Situation ist dramatisch.» Die Jungen sind verschwunden. Die Alten hätten kein Rezept gegen die Abwanderung, und innovative Kräfte fehlten weitgehend.
«Je stärker die Abwanderung, desto grösser die Abschottung.»
Weltoffener habe die düstere Lage die Bergler nicht gemacht. Im Gegenteil: «Je stärker die Abwanderung, desto grösser die Abschottung.» Die Verbliebenen fühlten sich missverstanden, wollten sich nicht reinreden lassen – schon gar nicht von den Städtern. Die Politiker wiederum hätten nur die Zentren im Auge. «Die Solidarität bröckelt.» Das gehe alle Schweizer etwas an. Denn stehe die Gemeinsamkeit auf dem Spiel, sei das Selbstverständnis der Schweiz in Frage gestellt. Siegrist geht sogar noch einen Schritt weiter: «Wenn in den Berggebieten der Widerstandsgeist wächst, haben wir ein staatspolitisches Problem.»
Einer der Widerspenstigen ist der Meientaler Josef Baumann (54): Vater von fünf Kindern, Besitzer von acht Kühen und hundert Schafen. Er ärgert sich, dass die ganze Schweiz glaubt, mitreden zu dürfen, wenn es um die Berge geht. Er mische sich doch auch nicht in die Asylpolitik ein, schliesslich sei hier oben noch nie ein Flüchtling vorbeigekommen. Von Nationalparks hält er nichts: «Wir sind doch keine Ausstellungsobjekte!» Das Meiental hat versucht, Menschen anzulocken. Mit Werbeplakaten. Zwei Fami-lien kamen, eine zog wieder weg. Ungefragt kam letztes Jahr ein Wolf – er wurde erschossen.
Das Problem des Meientals scheint schnell benannt: die Zufahrtsstrasse. Im Winter kann sie wochenlang geschlossen sein. Ein Problem für alle, die auswärts arbeiten – also fast jeden. Baumann forderte wiederholt, dass die Strasse wintersicher gemacht wird. Die Urner Regierung will nicht, schickt bei Bedarf lieber einen Helikopter. Das ist günstiger. Doch der Heli kann bei schlechtem Wetter nicht fliegen. Es ärgert Baumann, dass die reiche Schweiz die «paar Milliönli» nicht zahlen will. 18 Millionen sind es, um genau zu sein – für 60 Bewohner. Für Baumann sind das 59 Leute, die ihm am Herzen liegen, deshalb schmiedet er ständig neue Pläne. Gut möglich, dass einer der 300 reichsten Schweizer bald einen Brief von ihm bekommt. Darin wird er erklären, wie wichtig eine wintersichere Strasse für das Überleben des Meientals ist.
Die neue Regionalpolitik: weniger Subventionen, mehr wirtschaftliche Stärkung
Weiter östlich im Bündner Calancatal lebt Rodolfo Keller (77). Als «Che Guevara der schrumpfenden Bergdörfer» wurde er schon bezeichnet.
Unermüdlich kämpfte der heutige Gemeindepräsident und ehemalige Zürcher Kantonsrat in den letzten Jahren für seine Wahlheimat. Doch nun zeigt auch er Ermüdungserscheinungen. In seinem Haus, im Zehn-Seelen-Dorf Landarenca, das nur per Seilbahn zu erreichen ist, sagt er: «In den letzten Jahren hat sich die Situation verschlimmert.»
Die Generation der 20- bis 40-Jährigen fehle fast komplett, 70 Prozent der Häuser sind Zweitwohnungen. Oft von Jungen, die das Haus der Eltern erbten, aber weggezogen sind. Arbeitsplätze gibt es hier nur sehr wenige. «Vielleicht will ich einfach nicht wahrhaben, dass die Situation hoffnungslos ist.» Früher hätten Berggemeinden noch relativ einfach Geld bekommen. Die neue Regionalpolitik des Bundes habe das geändert. Ihr Ziel: weniger Subventionen, mehr wirtschaftliche Stärkung. Doch das sei hier nicht möglich. Wenn Beamte aus Chur wegen eines Projekts ins Tal kommen, fragten sie als Erstes: «Rentiert das denn?» Keller antworte jeweils: «Nein, sicher nicht.» Aber Menschen wie er lebten nun mal hier.
Bewohnt ist dieses Tal seit mehr als tausend Jahren. Vor knapp 300 Jahren von 2700 Leuten, heute noch von 750. Damit es wieder mehr werden, baut die Gemeinde nun Mietwohnungen und hofft, dass jemand kommt.
Keller sagt: Geht diese Welt unter, geht auch ein Teil des Wissens der Schweiz verloren. Das letzte Postauto verlässt Bellinzona um 18 Uhr Richtung Calancatal. EinFahrgast sitzt darin, einen Laden gibt es noch im Tal. Vom BH bis zum gefrorenen Pulpo gibt es dort alles. Auch Alpkäse, klar. Doch nochmals zurück ins Wallis, nach Albinen. In das Dorf, das jungen Menschen Geld bezahlen will, wenn sie ins Dorf kommen, wo Hoffnung in der Luft liegt und man davon träumt, die Dorfschule wieder zu eröffnen. Ein jüngerer Albiner, der gerade Flaschen entsorgt, hofft mit. Nicht, weil er sich um die Zukunft sorgt, sondern weil er dann endlich sein Haus verkaufen kann. Gelingts, zieht er weg, nach Lugano.