Ukrainischer Seelsorger in der Schweiz fühlt sich machtlos
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«Es ist kräftezehrend»:Ukrainischer Seelsorger in der Schweiz fühlt sich machtlos

Vier Ukrainer in der Schweiz über den Krieg in der Heimat
Die schwerste Woche unseres Lebens

Wir haben vier Ukrainer in jener Woche begleitet, die ihr Land für immer verändern wird.
Publiziert: 26.02.2022 um 17:56 Uhr
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Aktualisiert: 26.02.2022 um 18:31 Uhr
Aline Wüst

Am Montag.
«Wir wollen keinen Krieg», sagt Mariana Melnykovych. Sie spricht konzentriert, ihre Stimme aber klingt müde. Seit bald drei Jahren lebt die 36-Jährige mit ihrem Mann und den zwei Kindern in Zürich. Sie ist Umweltwissenschaftlerin, hat einen Doktortitel. «Ich hoffe so sehr, dass es nicht zu einer kompletten Eskalation kommt.» Trotzdem bereiten sich Familie und Freunde in der Ukraine in diesen Stunden auf die Verteidigung ihres Landes vor. Melnykovych, hier in der Schweiz, verbrachte den ganzen Morgen in Arbeitsmeetings.

Am Dienstag.
«Was Kiew für eine Stadt ist?» Yevgeniy Protsyuk (36) sitzt am Esstisch in seiner Stube in Zürich-Affoltern. Im Hintergrund ist seine Frau zu hören, die im Homeoffice arbeitet. Die beiden haben einen einjährigen Sohn. Protsyuk hat ein eigenes IT-Unternehmen und ist Präsident eines ukrainisch-schweizerischen Vereins. «Nun, in Kiew existiert Leben und Kultur auf allen Ebenen», sagt er. Die Leute machen Sport und haben eine Lieblingssportart, sie geniessen das kulturelle Leben und haben ihre Lieblingskünstler. «Die Gastroszene ist vielfältig.» Jetzt aber machten die Menschen Kurse für Überlebenstrainings und medizinische Nothilfe und kaufen Waffen. Sein Bruder habe Kiew diese Woche mit seiner Familie verlassen. Er tankte das Auto voll und fuhr aufs Land. Mit kleinen Kindern sei man nicht so mobil. «Sie können sich ja vorstellen, was passieren würde, wenn plötzlich alle Menschen gleichzeitig aus der Stadt raus wollten.» Und dann habe seinem Bruder auch die ständige Anspannung zugesetzt. Nicht zu wissen, was geschehe. Alle 15 Minuten die Nachrichten auf dem Handy checken. Nein, er selbst informiere sich nicht viertelstündlich. Bloss alle 30 Minuten. «Ich bin selbständig. Ich kann mir das nicht leisten.» Protsyuk lacht.

Protsyuk Yevgeniy (36) aus Zürich-Affoltern ist Unternehmer und Präsident des Ukrainischen Verein, Zentral und Ostschweiz.
Foto: Nathalie Taiana

Nazar Zatorskyy (42) ist Doktorand an der theologischen Fakultät in Freiburg. Als bischöflicher Delegierter ist er für die ukrainischen Christen in der Schweiz zuständig. Die Ukrainer hier nennen ihn «unseren Pfarrer». Seit 17 Jahren lebt Zatorskyy in der Schweiz. «Wir Ukrainer im Ausland sind angespannt», sagt er. Vielleicht fast noch mehr als die Ukrainer in der Heimat. «Weil wir direkt nichts tun können.» Im Gegensatz zu Freunden und Familie könnten die Ukrainer in der Schweiz weder Sanitätskurse machen, wie das nun überall im Land gemacht werde, noch sich anderswie auf die territoriale Verteidigung vorbereiten. «Wir sind hier dieser Sorge um die Zukunft unseres Landes und unserer Freunde ausgeliefert.» Was bleibe, sei das Gebet. «Das ist unsere Waffe. Damit kämpfen wir. Wir beten um Frieden.» Seit Monaten sei die Krypta in Zürich nie mehr so voll gewesen wie am vergangenen Sonntag. Das Zusammenkommen sei wichtig. «Wir spenden uns gegenseitig Trost.»

Pfarrer Nazar Zatorskyy (42) in der Kirche St. Niklaus in Freiburg.
Foto: Nathalie Taiana

Am Mittwoch.
Nastya* (52) lebt mit ihrem Mann in einem Haus mit Gärtchen in einem Berner Vorort. Die Kommode in der Stube ist ein Erbstück ihrer Schwiegereltern, darauf ein ukrainisches Ikonenbild. Jedes Mal hat Nastya Herzklopfen, wenn ihr Telefon klingelt und sie sieht, dass jemand aus der Ostukraine anruft. Sie frage dann vorsichtig: «Wie gehts?» Und bekommt zur Antwort: «Am Vormittag wurden wir beschossen, so und so viele Häuser sind zerstört, vor dem Kindergarten hat es ein riesiges Loch von einer Mine.» – «Was tut ihr jetzt?» – «Jetzt haben wir keinen Strom und sitzen im Keller.» Die Bernerin Nastya sitzt am Küchentisch. Im Garten kämpfen sich die ersten Krokusse aus dem Boden.

Am Donnerstag.
Um 8.04 Uhr schreibt Mariana Melnykovych: «Guten Morgen. Heute um 5.00 Uhr hat Russland mit der Bombardierung der Ukraine begonnen. Und in einer weiteren Nachricht: «Ich bin zutiefst schockiert. Ich habe bis zur letzten Minute geglaubt, dass es nicht so weit kommen wird.»

Umweltwissenschaftlerin Mariana Melnykovych aus Zürich: «Wir werden eine strahlende Zukunft erschaffen für unsere Kinder.»
Foto: Nathalie Taiana

Kurz darauf vermelden die ersten Schweizer Nachrichtenportale, was Protsyuks Bruder befürchtet hat – «Menschen verlassen Kiew fluchtartig». Vor Tankstellen und Geldautomaten bilden sich lange Schlangen, und die Strassen aus der Hauptstadt hinaus sind verstopft. Kurz vor 10 Uhr eine Nachricht von Nastyas Mann: «Wir sind schockiert, obwohl wir es erwartet haben. Wir versuchen, irgendwie zu funktionieren. Das Weinen verschiebe ich auf später.» Nastya selbst verspürt einfach nur Wut auf «das Putinsche Regime und seine Untertanen». Auch Nazar Zatorskyy kann nicht glauben, dass Putin sich tatsächlich für den Krieg entschieden hat. Er will nicht aufhören, für Frieden zu beten, doch die ukrainische Bevölkerung sei bereit, für die Freiheit zu kämpfen. Und Mariana Melnykovych sagt: «Als Umweltwissenschaftlerin sehe ich die vielen Krisen dieser Welt: Klimawandel, Hunger, Ernährungsunsicherheit und aktuell die Pandemie. Ich kann nicht glauben, dass der russische Präsident, statt auf diese globalen Krisen zu reagieren und die zahlreichen Herausforderungen anzugehen, denen sein eigenes Land gegenübersteht, sich für diesen sinnlosen Weg entscheidet und einen Krieg in Europa begonnen hat.»

Krieg in Europa. Das ist seit Donnerstag Realität.

Anfang Woche haben Nastya, Mariana Melnykovych, Nazar Zatorskyy und Yevgeniy Protsyuk erzählt, was in ihrem Land passiert. Es ist der Versuch zu erklären, was keinen Sinn ergibt.

Was alle betonen: Die Ukraine hat eine eigene Kultur, Identität und Sprache. Sie ist ein unabhängiges Land mit international klar geregelten territorialen Grenzen. Die Ukraine ist eine Demokratie. Klar gingen die Reformen teils langsam, gebe es immer wieder Rückschläge. Aber da sei ein Volk, das sich auf den Weg gemacht habe. Auf den Weg in Richtung Westen. Mariana Melnykovych sagt: «Wir wollen eine strahlende Zukunft für unsere Kinder erschaffen.»

Yevgeniy Protsyuk betont, dass die Aggressionen gegen die Ukraine bereits losgingen, als Putin an die Macht kam. Das war 2001. «Es begann mit wirtschaftlichen und ideologischen Erpressungen, dann kamen die politische Manipulation und die Finanzierung der prorussichen Bewegung auf der Krim. Putin habe der russischen Bevölkerung ausserdem ständig erzählt, wie schlecht die Lebensumstände in der Ukraine seien. «Das stimmt nicht», sagt Expat Protsyuk. «Die Ukraine hat mittlerweile viele gut ausgebildete Leute, der Kreativbereich ist gross, und es gibt immer mehr Wertschöpfung im eigenen Land.» Wohingegen die russische Bevölkerung von Putin als Geisel gehalten werde, es keine freien Medien gebe und in Teilen des Landes grosse Armut herrsche. «Eine freie und unabhängige Ukraine, die erst noch erfolgreich ist – das ist die grosse Bedrohung für Putin.» Darum ist Protsyuk wichtig festzuhalten: «Das ist keine Ukraine-Krise. Es ist eine Russland-Krise. Die Russische Föderation ist der Grund für diese Krise.»

Nastya, die Bernerin mit der entschlossenen Art und dem freundlichen Wesen, erzählt, dass Putin die Deutung des eigenen Verhaltens in den letzten Jahren immer wieder geändert habe. Zuerst sagt er, dass es darum gehe, die russischsprachigen Ukrainer in der Region Donbass zu schützen. Dabei seien diese nie in Gefahr gewesen. Zu Beginn der Annektierung 2014 hätten russischsprachige Ukrainer sich noch getraut, das am Fernseher zu sagen. Sie sagten: «Wir wurden nie verfolgt.» Dann wurde die Repression so gross und gewalttätig, dass jeder genau wusste, was er offiziell sagen musste, um am Leben zu bleiben. Danach sprach Putin von einem Neurussland. Nastya sagt: «Es gibt kein Neurussland. Wir sind ein eigenständiges Land.» Dann begann Putin zu behaupten, dass die Ukrainer Faschisten seien. «Was auch nicht stimmt. Bei den letzten Wahlen haben die Ultrarechten gerade mal 0,2 Prozent der Stimmen bekommen.» Seine vierte Taktik war zu erzählen, dass die «ukrainischen Brüder» vor dem Einfluss des dekadenten Westens geschützt werden müssten. Er wetterte dabei auch gegen die LGBTQ-Bewegung. Seine Botschaft: Europa hat keine Werte. Nastya sagt: «Es ist wichtig, darüber zu reden, wie die Einstellung des russischen Regimes zum Westen ist.»

Pfarrer Nazar Zatorskyy geht es nun nicht nur darum, sich hinter die Ukraine zu stellen. «Es geht auch und vor allem darum, die europäischen demokratischen Werte zu verteidigen.» Das Ziel Putins sei es, diese Werte zu untergraben, in Europa Zwietracht zu säen. «Russland führt nun Krieg, weil die Ukraine sich für den europäischen Weg entschieden hat.» Die Europäer müssten sich nun entscheiden, ob sie es ernst meinen mit Werten wie Freiheit, Demokratie und Menschenwürde. Oder ob es ihnen nur ums Geld geht. Also ganz direkt: «Was ist die Basis der europäischen Länder? Freiheit? Oder geht es darum, weiterhin lukrative Geschäfte mit Russland zu machen?» Er schiebt nach: «Bisher hat immer das Geld gewonnen.»

Nastya* (52) ist seit Jahren fast täglich in Kontakt mit Menschen in der Ostukraine.
Foto: Nathalie Taiana

In der Küche des Berner Vororts greift Nastya nach ihrem Handy, das während des Gesprächs neben der Kaffeemaschine lag. Es ist das Handy, das ihr Herz schneller schlagen lässt, wenn jemand aus der Ostukraine anruft. Sie will Fotos zeigen. Nastya kam vor mehr als 20 Jahren in die Schweiz. Ihre Eltern liegen dort begraben, wo seit 2014 geschossen wird, im Osten der Ukraine. In Kontakt mit ihrem Heimatland ist sie fast täglich. Mit Leuten, die sie ihre Brüder und Schwestern nennt: Aktivisten, die seit Jahren unermüdlich die unabhängige Ukraine verteidigen. «Diese Menschen jammern nie.» Auch wenn sie in letzter Zeit kaum je ruhig schlafen konnten.

Gemeinsam mit diesen Aktivistinnen hat sie ein Netzwerk geschaffen, um Menschen zu helfen, die wegen der Aggression Russlands in Not sind. Die Aktivisten begegnen diesen Menschen in ihrem täglichen Leben und vermitteln den Kontakt zu Nastya. Sie telefoniert dann mit ihnen, um zu erfahren, was gebraucht wird. Viele sind Binnenflüchtlinge. Wie auch die Mutter, mit der sie kürzlich sprach. Sie habe geweint und immer wieder gefragt, ob Nastya sie und ihre Familie als arme Menschen betrachte. Sagte, dass ihr das alles so peinlich sei. Nastya brauchte lange, um sie zu überzeugen, dass sie gern helfe, sich die Frau nicht dafür schämen müsse. Dann sagte die Ukrainerin: «Schick mir, was du kannst. Wir haben nichts mehr.» Die Fotos auf Nastyas Handy zeigen Waisen und Halbwaisen, hagere Männer, kranke Frauen. Kindergartenkinder, die seit Jahren nahe der Beschusszone leben und ihre schönsten Kleider angezogen haben für das Foto, auf dem sie die Märchenbücher, die Nastya schickte, in die Kamera halten.

Es sind die Spuren des Kriegs, die diese Fotos zeigen. Jetzt ist dieser Krieg überall in der Ukraine. In diesem Land, von dem IT-Unternehmer Protsyuk sagt, dass wohl nirgendwo sonst in der Welt so viel gesungen wird. Über 1000 Volkslieder haben die Ukrainer, es gebe Lieder für jede Emotion und Lebenslage. Nun gehen die Ukrainer in der Schweiz auf die Strasse, für etwas, ohne das alles nichts ist – Frieden.

Nastya* will auf keinen Fall ihr Netzwerk aus Aktivistinnen in der Ukraine in Gefahr bringen. Deshalb bleibt sie anonym.

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