UN-Bericht geht von systematischer Folter aus
«Eritrea ist ein riesiges Gefängnis»

Tausende sitzen in Eritreas Haftanstalten. Überlebende berichten von unmenschlichen Bedingungen.
Publiziert: 05.03.2017 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 30.09.2018 um 20:51 Uhr
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Abraham Tesfarmariam ist aus Eritrea: «Unser Land ist ein Gefängnis.»
Foto: Sabine Wunderlin
Cyrill Pinto

Abertausende Eritreer flüchten vor dem autoritären Regime in der Hauptstadt Asmara. Die meisten suchen ein neues Leben in umliegenden Ländern wie Äthiopien und dem Südsudan, wo bereits Hunderttausende ihrer Landsleute gestrandet sind.

Viele treten aber auch die lange Reise übers Mittelmeer an, gelangen nach Italien und schliesslich in die Schweiz. Abraham Tesfarmariam (37) ist einer von ihnen.

2007 flüchtete er zunächst von Eritrea nach Äthiopien, dann weiter über den Sudan, Libyen und Italien schliesslich in die Schweiz. Ein Jahr dauerte seine Flucht  «Am schlimmsten war die achttägige Bootsfahrt übers Mittelmeer.» Inzwischen gilt er als anerkannter Flüchtling, hat eine Aufenthaltsbewilligung und arbeitet als Pfleger in einem Altersheim bei Frick AG.

«Leute verschwinden einfach»

Tesfarmariam hat noch Verwandte in der Heimat. «Eritrea ist ein riesiges Gefängnis. Leute verschwinden einfach in einer der vielen Haftanstalten. Nicht einmal ihre Familien erfahren, wo sie gefangen gehalten werden und ob sie überhaupt noch leben.» 

Ein Vergehen beim Militär, eine Dienstverweigerung oder bloss der Versuch zur illegalen Ausreise reichten schon aus, um jahrelang in einem Gefängnis zu verschwinden.

Diktator Isayas Afewerki (71) regiert das Land seit der Unabhängigkeit 1993 mit eiserner Faust. Nach Gefechten an der Grenze zu Äthiopien um die Jahrtausendwende befindet sich das Land faktisch im Kriegszustand, jahrelanger Wehrdienst bei geringer Bezahlung ist deshalb für alle Männer Pflicht. Widerspruch oder gar Opposition werden nicht geduldet.

Bis zu 10’000 politische Häftlinge im Land

Tesfarmariam leistete über zwei Jahre Zwangsdienst im Militär, bevor er sich zur Flucht entschied. «In Eritrea gibt es kein Leben – nur Militär und Gefangenschaft», sagt er. Menschenrechtsorganisationen schätzen die Zahl der politischen Häftlinge auf 5000 bis 10’000. 

Selbst für unabhängige Organisationen sind Eritreas Gefängnisse seit Jahren ein schwarzes Loch. Nur ein einziges Mal wurde eine Uno-Expertengruppe in ein reguläres Gefängnis vorgelassen.

Doch nicht einmal das IKRK erhielt je eine Chance, die Haftbedingungen zu überprüfen, wie auch das Staatssekretariat für Migration (SEM) bestätigt. «Im Rahmen von Dienstreisen konnten in den letzten Jahren weder das SEM noch Partnerbehörden Gefängnisse in Eritrea besuchen», sagt Lukas Rieder vom Staatssekretariat.

UN-Report schildert schockierende Zustände

Ein Schlaglicht auf die verzweifelte Lage der eritreischen Gefangenen wirft nun ein Bericht im Auftrag des Uno-Hochkommissariats für Menschenrechte, der SonntagsBlick in voller Länge vorliegt. Auf beinahe 500 Seiten listet der Report, für den Experten mit rund 600 Eritreern sprachen, schockierende Zustände auf – zum Beispiel im Gefängnis Mai Serwa nördlich der Hauptstadt Asmara.

Dort werden Häftlinge in Untergrundzellen und einfachen Schiffscontainern wie Tiere gehalten. Laut einem der Verhafteten, der dort einen Monat eingeschlossen war, habe der Raum bloss siebeneinhalb Quadratmeter gemessen und sei zu niedrig gewesen, um darin aufrecht zu stehen.

19 Gefangene in einer Zelle

«In meiner Zelle waren 19 Personen untergebracht. Es gab dort nur Platz, um zu stehen. Tagsüber wurden die Zellen unerträglich heiss, in der Nacht frostig. Von der Decke tropfte das Kondenswasser von unserem Atem – wie Regen. Am unerträglichsten waren die zahllosen Läuse, doch ich konnte mich nicht einmal kratzen, da ich mit Eisenketten gefesselt war.»

Ein weiterer Zeuge sprach mit den Uno-Experten über seine Verlegung in das Gefängnis von Wi’a: «Wir waren 175 Personen in einem grossen Lastwagen. Es war sehr schmerzhaft, darin zu sitzen. Weil der Lastwagen so schnell unterwegs war, musste sich praktisch jeder Gefangene übergeben. Mein Kopf, meine Schultern und mein Rücken waren vom Erbrochenem anderer Häftlinge bedeckt. Erst eine Woche später durfte ich mich waschen, meine Kleider musste ich noch zwei Monate tragen.»

Mit Drohungen zum Schweigen gezwungen

Ein Mann, der seinem Bruder die Flucht aus Eritrea ermöglichte, wurde dafür zwei Monate in einer Isolationszelle der berüchtigten Haftanstalt Adi Abeito in Asmara festgehalten, später nach Mai Serwa verlegt. «Als ich freigelassen wurde, sagte ein Wärter zu mir: ‹Du wirst entlassen, darfst aber nichts über dieses Gefängnis sagen. Wenn du es dennoch tust, ist das dein Urteil.›» 

Der Bericht beschreibt insgesamt 68 Gefängnisse, die meisten ohne jede medizinische Versorgung. Stattdessen sei Folter weitverbreitet. Es gebe starke Hinweise, dass Gefangene systematisch gequält werden, um Angst in der Bevölkerung zu verbreiten und die Opposition zum Schweigen zu bringen, heisst es im Uno-Bericht.

Die Hölle in der Wüste

Der Bruder von Abraham Tesfarmariam sass zwei Jahre lang im Gefängnis Sawa unweit der Grenze zum Sudan. Der Komplex gehöre zum Stützpunkt der sechsten Brigade. «Die Haftbedingungen waren katastrophal», weiss Tesfarmariam von seinem Bruder. «40 Männer sassen in einer 25 Quadratmeter grossen Zelle. Schlaf war nur gestaffelt möglich. In diesem Wüstencamp wurde es tagsüber fast unerträglich heiss. Es sind Leute in den Zellen gestorben.» Tesfarmariam: «Wer aus diesem Gefängnis entlassen wurde, ist der Hölle entronnen!»

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