Was war Ihr erster Gedanke, als Sie hörten, dass Präsident Trump am Coronavirus erkrankt ist?
Erst einmal Mitgefühl. Ich wünsche niemandem eine solch schreckliche Krankheit. Aber ich habe mir auch sofort Sorgen um die Wahlen gemacht.
Wieso?
Wir haben keine Gesetze, die regeln, was passiert, wenn ein Präsident so kurz vor der Wahl stirbt oder handlungsunfähig wird. Das ist aber nur eines der vielen Probleme, die diese Wahl bedrohen.
Wie würden Sie denn als Wahlrechtsexperte die momentane Situation in einem Wort beschreiben?
In einem Wort? Das ist fast nicht möglich.
Versuchen Sie es.
Fragil.
Weshalb?
Das Grundproblem ist das kaputte US-Wahlsystem, das sich auf verschiedenen Ebenen zeigt. Es gibt bei uns keine nationale Wahlbehörde und keine unparteiische Wahlkommission, die einen Sieger verkündet, wie es in den meisten Demokratien der Welt üblich ist. Eigentlich findet am 3. November nicht eine Wahl statt, sondern 10'500 verschiedene, weil sie dezentral organisiert sind.
Wieso ist das ein Problem?
Die Kontrolle ist lokal. Sie ist an vielen Orten parteiisch und findet durch gewählte Demokraten oder Republikaner statt, die sich auch ihren Parteien verpflichtet fühlen. Das ist mit ein Grund, weshalb es zu einer amerikanischen Tradition wurde, Abstimmungsresultate vor Gericht anzufechten. Es gibt ein weiteres Problem, das oft vergessen wird, aber ebenso folgenreich ist.
Welches?
Inkompetenz. Es fehlt an Ressourcen, um jene Menschen, die bei der Durchführung der Wahl helfen, gut auszubilden. Das ist insbesondere jetzt während der Pandemie eine grosse Gefahr, weil noch kurz vor der Wahl viele Korrekturen im Wahlprozedere angebracht werden, welche die lokalen Wahlbehörden überfordern. Ich fürchte, dass deshalb viele Menschen Probleme beim Wählen haben werden. Das können zum Beispiel lange Schlangen, Unregelmässigkeiten beim Auszählen und verspätete Resultate sein.
Donald Trump haben Sie noch nicht einmal erwähnt.
Ich habe es schon in meinem im Februar veröffentlichten Buch beschrieben: Wir haben einen Präsidenten, der fast ohne Unterbruch die Glaubwürdigkeit der Wahl in Frage stellt und damit das Vertrauen der Bürger untergräbt. Das wäre allein schon sehr beunruhigend. Und jetzt kommt dazu noch die Pandemie.
Wie wirkt sich die Pandemie konkret auf die Wahlen aus?
Der Gang zur Wahlurne ist gefährlich, besonders für ältere Menschen, weil sie sich dann mit vielen Menschen auf engem Raum befinden. Deshalb gibt es das Bestreben, die Briefwahl zu erleichtern. Aber viele Staaten und Bezirke haben keine Erfahrung mit einer grossen Zahl von Briefwählern. Dazu kommt, dass viele Wähler benachteiligt werden, weil sie die Regeln der Briefwahl nicht gut kennen oder verstehen. Wenn man aber bei der Briefwahl einen technischen Fehler macht, dann zählt die Stimme nicht.
Derzeit behandeln amerikanische Gerichte Hunderte von Klagen, bei denen es um die Briefwahl geht.
Viele dieser Klagen wurden nicht von Republikanern eingereicht, sondern von Demokraten oder von Gruppierungen, die angesichts der Pandemie versuchen das Wahlrecht zu lockern – und so die Teilnahme an der Wahl zu erleichtern. Die Republikaner versuchen das zu verhindern und das Recht auf Briefwahl einzuschränken. Damit sind sie zum Teil erfolgreich.
Die Republikaner sagen: Die Briefwahl öffnet Tür und Tor für Wahlbetrug. Stimmt das?
Briefwahl ist anfälliger für Manipulationen, aber es gilt festzuhalten: In den letzten 50 Jahren gab es nicht viele Fälle von Wahlbetrug in den USA. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass man mit einer Manipulation der Briefwahl das Resultat einer Präsidentschaftswahl beeinflussen kann. Die verrückten Verschwörungstheorien von Präsident Trump, dass ausländische Regierungen Tausende von gefälschten Wahlzetteln verschicken werden, ist die Ablenkung eines Politikers, der versucht eine Wahl zu türken.
Die Strategie scheint zu funktionieren. Gemäss Umfragen glauben 56 Prozent der amerikanischen Wähler nicht, dass die Wahlen am 3. November fair verlaufen werden.
Sie nennen es Strategie. Aber mir ist nicht ganz klar, ob und welche Strategie Trump überhaupt hat. Wenn er die Leute von der Briefwahl abhalten will, dann verfängt das bei den Republikanern besser als bei den Demokraten. Der Schuss könnte also nach hinten losgehen. Präsident Trump wählt übrigens selber per Briefwahl.
Greifen eigentlich nur Republikaner das Wahlrecht an?
Ich würde nicht sagen nur, aber vorwiegend.
Weshalb?
Die Republikaner haben sich entschieden, um eine kleine, homogene Gruppe von Wählern zu werben …
Um eine vorwiegend weisse, ältere, nicht urbane Wählerschaft.
Genau – und darum profitieren sie davon, wenn der Zugang von Minderheiten zur Wahl eingeschränkt wird.
In Ihrem Buch beschreiben Sie ein Szenario, in dem Trump die Wahlen knapp verliert, sich aber weigert, die Niederlage anzuerkennen – und das Weisse Haus nicht verlässt. Wie ist das überhaupt möglich?
Er könnte sich schlicht und einfach zum Sieger erklären. Wenn das Resultat knapp ist, halte ich das immer noch für möglich. Wenn seine Niederlage deutlich ist, halte ich es für nicht sehr wahrscheinlich.
Es gibt aber auch die Gefahr, dass Russland versucht die Wahl zu beeinflussen. 2016 haben die Russen das getan, indem sie über Social Media Fake News verbreiteten und sich in die Server der demokratischen Partei gehackt hatten.
Ja, aber das ist nicht die einzige Möglichkeit, die den Russen zur Verfügung steht. Wir haben die Tendenz, immer nur Gefahren zu sehen, die wir schon kennen.
Welche gibt es noch?
Die Russen haben bereits bewiesen, dass sie die Fähigkeit haben, in das amerikanische Stromsystem einzudringen. Ich weiss, dass sich US-Cybersicherheitsexperten darauf vorbereiten. In der Ukraine haben die Russen schon für Blackouts gesorgt. Und leider diente die Ukraine den Russen schon in anderen Fällen als Experimentierfeld für Dinge, die sie später im Westen ausgeübt haben. Sie könnten versuchen das Stromnetz in amerikanischen Städten lahmzulegen und so für Chaos zu sorgen. Es wäre schön, wenn wir einen Präsidenten hätten, der den Russen sagen würde: Wenn ihr unsere Wahlen beeinflussen wollt, dann werden wir dafür Vergeltung üben. Aber das haben wir leider nicht.
Wagen Sie eine Prognose: Werden wir nach der Wahl vom 3. November einen Sieger haben, den alle als Sieger akzeptieren?
Wenn wir Glück haben und es einen Erdrutschsieg für einen der Kandidaten gibt, dann dürfen wir darauf hoffen. Im Moment führt Biden klar. Aber das kann sich noch ändern. Wenn es eng wird, dann droht den Vereinigten Staaten Unheil.
War die USA je in einer vergleichbaren Situation vor einer Wahl?
Es gibt nichts, was sich damit vergleichen lässt. Wir befinden uns in der gefährlichsten Phase in der modernen Geschichte der amerikanischen Demokratie.
Richard L. Hasen (56) ist Professor für Recht und Politikwissenschaften an der University of California und gilt als einer der führenden Experten für das amerikanische Wahlrecht, über das er mehrere Bücher geschrieben hat. Im letzten Februar erschien «Election Meltdown», in dem er die Fehler des US-Wahlsystems als Gefahr für die Demokratie beschreibt. Hasen schreibt immer wieder Meinungsbeiträge für Publikationen wie die «New York Times» und «Washington Post» und tritt bei CNN als Wahlexperte auf.
Richard L. Hasen (56) ist Professor für Recht und Politikwissenschaften an der University of California und gilt als einer der führenden Experten für das amerikanische Wahlrecht, über das er mehrere Bücher geschrieben hat. Im letzten Februar erschien «Election Meltdown», in dem er die Fehler des US-Wahlsystems als Gefahr für die Demokratie beschreibt. Hasen schreibt immer wieder Meinungsbeiträge für Publikationen wie die «New York Times» und «Washington Post» und tritt bei CNN als Wahlexperte auf.