Tristezza im Ticino
Sie haben ein Rezept

Man nehme regionale Traditionsmenüs mit Produkten aus eigener Herstellung, zubereitet mit viel Leidenschaft. Das ist das Landfrauen-Küche-Modell aus dem Tessin. Das schmeckt nicht allen, denn der Branchenverband Gastro-Ticino übt Kritik.
Publiziert: 02.11.2015 um 16:51 Uhr
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Aktualisiert: 04.10.2018 um 19:02 Uhr
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Familienrezepte: Tanja Bisacca (38) aus Dongio hat die meisten Rezepte von ihrer Schwiegermutter. Das kommt nicht nur bei ihrem Mann Andrea an, sondern auch bei den Gästen.
Foto: Yvonne Leonardi
Von Myrte Müller

Das Tessin jammert über den beängstigenden Einbruch der Gästezahlen. Die Touristen zieht es immer seltener in die Sonnenstube. Das merken auch die Wirte (BLICK berichtete).

Drei Landfrauen machen aus der Not eine Tugend und öffnen ihre guten Stuben für Publikum. Ihr Erfolgsrezept: Sie tischen regionale Traditionsmenüs auf mit Produkten aus eigener Herstellung und zubereitet mit viel Leidenschaft. Der Verein Swiss Tavolata organisiert diese Hobby-Gastronomie und vermittelt via Internet Landfrauen-Küche in der ganzen Schweiz.

Das Modell schmeckt nicht jedem. Der Branchenverband Gastro-Ticino übt Kritik. «Das grenzt schon an unlauteren Wettbewerb», sagt Präsident Massimo Suter (44). Er ortet Ungerechtigkeiten gegenüber dem Gastgewerbe – vor allem den Grotti. «Die Landfrauen haben keine Auflagen bezüglich Brandschutz und Hygiene wie wir», sagt Suter. «Und sie haben auch kein Personal.»

BLICK schaute in die Küchen von drei Landfrauen. Eine ist die Bäuerin Tanja Bisacca (38) aus Dongio. Auf dem Hof im Bleniotal stehen Pinzgauer Rinder und ein paar Schweine. Die gebürtige St. Gallerin war schon Gast der TV-Sendung «SRF bi de Lüt». Bisacca serviert in ihrem Gartenhäuschen Salami und Luganighetta aus eigener Schlachtung und dazu Risotto mit Tessiner Steinpilzen. Das Sorbet enthält Trauben aus dem Garten, ebenso der Wein.

«Ich habe alles von meiner Schwiegermutter gelernt», sagt Bisacca. «Allein das Rühren der Polenta ist eine Kunst.» Ehemann Andrea (44), von Beruf Chauffeur, ist begeistert: «In den Dienstpausen esse ich auswärts. Doch niemand kocht so gut wie meine Frau.» Es schmeckt auch den Gästen, die  gerne einen Abend im Bleniotal buchen.

Cristina Albertoni (61) lebt im Gutshaus ihrer Grosseltern in Cadenazzo. Es stammt aus dem 15. Jahrhundert und hat Kellergewölbe wie auf alten Stichen. Im Kamin knistert das Feuer.

In der Via Camoghé wird noch die alte Tradition gepflegt.

«Viele Rezepte habe ich von Mutter und Grossmutter», sagt die Ernährungswissenschaftlerin. Neben Währschaftem kommt Raffiniertes auf ihre Tafel: «Ich mache Kräuterliköre, Grappa und Konfitüren aus seltenen Früchten wie Kornelkirschen.»

Die Zutaten stammen aus dem Gemüsegarten, vom Bauern nebenan – oder aus fernen Ländern. «Mein Mann Fabrizio und ich reisen viel. Für meine pikanten Senffrüchte nehme ich Essenzen aus Italien. In unser Risotto kommt Safran aus Marokko.» Für Fabrizio (60) hat der neue Nebenjob seiner Frau Zukunft: «In vielen Restaurants hier bekommen Gäste ja nicht einmal mehr ein Lächeln serviert.»

Die Sonne scheint durch die Wolken und Esther Monaco (42) strahlt. Sie ist Älplerin und lebt in Gerra Gambarogno. Bei schönem Wetter tischt sie draussen auf, neben Kälbern, Ziegen, Hühnern. Exklusiv ist der Blick von 900 Metern Höhe auf den Lago Maggiore – und die Polenta, die über dem Feuer köchelt. «Sie ist aus rotem Mais, den gibt es kaum noch.» Die gebürtige Emmentalerin stammt aus einer Bauern-Dynastie und auch sie hütet einen Schatz an  alten Familienrezepten: Die Mortadella ist mit Zimt und Muskat gewürzt, der Bündner Salsiz aus Ziegenfleisch und die Geissen- und Kuhmilch ergibt Bergkäse. Qualität hat ihren Preis: Das Menü kostet 76, mit Wein 96 Franken.

Einen Tisch bei einer der Landfrauen kann man über Swiss Tavolata buchen. «Wir sind keine echte Konkurrenz für die Gastronomie», sagt Nora Russo (29). «Unsere Tafelrunden sind im kleinen Rahmen. Ihr Sinn ist eher, Einblick in authentische Schweizer Tradi­tionen zu ermöglichen.» EinArgument, das auch Gastro-Ticino schmecken müsste.

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