Flughafen Genf, 10. Oktober: Der Swiss-Jumbolino HB-IXP mit 73 Passagieren nimmt Fahrt auf zum Take-off in Richtung London City Airport. Plötzlich bremst der Jet scharf ab.
Was ist geschehen? Im Cockpit machte sich intensiver Ölgeruch breit. Der Pilot entschloss sich zum Startabbruch.
Der Flug wurde annulliert, die Passagiere umgebucht, die Maschine für 63 Stunden gegroundet. Bei zwei Crewmitgliedern wurden leichte Vergiftungen durch die Öldämpfe festgestellt. Die Schweizerische Sicherheitsuntersuchungsstelle (Sust) schaltete sich ein.
Der nächste Zwischenfall mit einer Swiss-Maschine folgte am 24. Oktober. Es traf den Jumbolino HB-IYR von Birmingham nach Zürich. Wieder gab es Ölgeruch im Cockpit, diesmal beim Landeanflug. Die Piloten brachten den Jet mit Sauerstoffmasken sicher auf der Piste 28 zum Stehen. Die Sust eröffnete eine Untersuchung. Sie taxiert das Geschehen als «ernsthaften Zwischenfall».
Weltweit zehntausende Fälle von kontaminierter Kabinenluft
Publiziert hatte beide Meldungen der unabhängige «Aviation Herald», ein Onlineportal, das über Zwischenfälle in der Luftfahrt berichtet. «Das Problem ist die mit Öldämpfen verunreinigte Luft in Cockpit und Kabine», meint «Herald»-Gründer Simon Hradecky. Komprimierte Luft, die fast bei allen Jets direkt aus den Turbinen gezapft und in den Kabinenraum der Flugzeuge geleitet wird, kann neben anderen gefährlichen Chemikalien das in synthetischen Ölen vorkommende Nervengift TCP enthalten. «Wir sehen nur die Spitze des Eisbergs», sagt der Experte, der in den letzten drei Jahren etwa hundert ähnliche Vorfälle gezählt hat; die deutsche Unfallversicherung der Airlines BG Verkehr behandelte im gleichen Zeitraum sieben Mal mehr Fälle über kontaminierte Kabinenluft, «weltweit sprechen wir von Zehntausenden Fällen».
Am Freitag meldete die BBC, dass ein Jet von British Airways zwischen San Francisco und London nach Vancouver umgeleitet werden musste, da sich die Crew «krank fühlte». 25 Personen wurden vorübergehend hospitalisiert. Im Funkverkehr mit der kanadischen Flugsicherung klagten die Piloten über «toxische Luft» an Bord.
Dauerhaft arbeitsunfähig
14 Tage zuvor veröffentlichte Spaniens Flugunfallbehörde ihren vorläufigen Bericht über einen Vorfall, der sich 2013 beim Landeanflug einer Maschine auf die Kanareninsel Las Palmas abgespielt hatte: Der Co-Pilot des Condor-Jets meldete Benommenheit bei starkem Ölgeruch in der Kanzel. Er habe den stinkenden Jet nur mit Sauerstoffmaske weitersteuern können. Mehrere Besatzungsmitglieder, so der 78-Seiten-Bericht, wurden durch vergiftete Kabinenluft geschädigt.
Eine von ihnen ist Freya von der Ropp, damals 37-jährig. Sie geht heute am Stock. Sie leidet an kognitiven Schäden, ist dauerhaft arbeitsunfähig. Nach der Landung waren die Triebwerke noch einmal hochgefahren worden: Die Crew sollte testen, ob der Ölgeruch noch spürbar sei. Von der Ropp stellte sich unter eine Luftdüse und «atmete ordentlich ein». Was dann geschah, schildert sie so: «Ich dachte, so fühlt es sich an, wenn man vergast wird.» Sie japste nach Luft, ihre Beine versagten den Dienst.
«Ungefiltert eingeatmet»
Diesen und vergleichbare Fälle analysiert Luftfahrt-Journalist Tim van Beveren in der Filmdokumentation «Ungefiltert eingeatmet». Zwei Jahre lang flog er um den Globus, sprach mit Wissenschaftlern, Toxikologen und Opfern, dann konfrontierte er Airlines und Hersteller mit den Fakten zum Zapfluft-Problem. Er sagt: «Die Airline-Industrie bestreitet noch heute die Existenz einer Krankheit, der drei Wissenschaftler aus Australien, den USA und Frankreich bereits 1990 einen Namen gaben: aerotoxisches Syndrom».
Van Beveren dokumentiert auch den Fall der Schweizerin Bearnairdine Baumann: 1977 begann sie zu fliegen, stieg zur Lufthansa-Chefstewardess auf – und musste 1998 den Job quittieren. Ärzte diagnostizierten bei ihr das aerotoxische Syndrom. Seit Jahren kämpft sie um Anerkennung ihres Leidens als Berufskrankheit. Heute lebt sie im Berner Oberland – weil dort, wie sie sagt, die «Luft besser ist» – von einer minimalen IV-Rente.
Dokumentiert ist auch der Fall des britischen Piloten Richard Westgate, der 2012 nach jahrelangem Leiden verstarb – seinen Leichnam vermachte er der Wissenschaft. Die forensisch-pathologische Untersuchung deckte Schädigungen an Nerven- und Herzmuskelgewebe auf. Die Wissenschaftler führen sie auf Chemikalien aus der Gruppe der Organophosphate zurück, zu denen neben TCP auch das Nervengift Sarin gehört.
Schon 2010 erhielt eine australische Ex-Stewardess durch höchstrichterliches Urteil eine Schadenersatzzahlung zugesprochen. Sie war 2012 am aerotoxischen Syndrom erkrankt. Seither ist auch die Industrie alarmiert. In einem internen Protokoll heisst es: «Das rechtskräftige Urteil in Australien könnte zum Präzedenzfall werden. Eine neue Dimension in der Diskussion würde erreicht, wenn sich das Thema durch die Medien vom bisherigen Betroffenenkreis Besatzungsmitglieder zum Betroffenenkreis Passagiere verlagern würde.»
Auch Flugzeugpassagiere sind betroffen
Diese neue Dimension ist heute eröffnet: Forscher haben das Nervengift TCP nun auch im Blut von Flugzeugpassagieren gefunden. «Es ist extrem schwierig, eine direkte Korrelation zwischen Öldämpfen und Krankheitsbildern nachzuweisen – auch weil jeder Mensch darauf unterschiedlich reagiert», sagt Urs Holderegger, Kommunikationschef beim Bundesamt für Zivilluftfahrt (Bazl). «Solange das nicht der Fall ist, sind dem Gesetzgeber die Hände gebunden.»
Bei der Pilotengewerkschaft Aeropers heisst es: «Das Problem der kontaminierten Kabinenluft besteht zweifellos. Es kann kurzfristig zu Bewusstlosigkeit, langfristig zu Nervenschäden führen.» Pressesprecher Thomas Steffen weiter: «Wir fordern deshalb Filter zwischen Triebwerk und Kabine sowie Sensoren im Flugzeug, die auf kontaminierte Luft reagieren.»
Der Bruder des verstorbenen Piloten Westgate fliegt übrigens noch immer bei British Airways. Er setzt sich jedoch nur noch ins Cockpit der B787. Diese modernen Jets, seit 2011 im Einsatz, haben als erste durchgängig einen elektrischen Lufteinzug.