Die beiden Felchenarten Palée und Bondelle sind die beiden Brotfische aus dem Neuenburgersee. Ihr Fang ist von 2016 bis 2018 um 65 Prozent eingebrochen. Für Fischer ist klar: Schuld an der Misere ist der Kormoran, er leert den See.
Am Neuenburgersee befindet sich die grösste Brutkolonie des Wasservogels in der Schweiz. Die Bestände haben in den vergangenen Jahren stark zugenommen. «Wir haben hier 3000 bis 4000 Kormorane», sagt der Berufsfischer Philippe Oberson aus dem waadtländischen Corcelles-près-Concise der Nachrichtenagentur Keystone-SDA.
«Wenn man weiss, dass jeder Vogel täglich 500 Gramm Fisch frisst, ist die Rechnung schnell gemacht. «Die Kormorane fressen mehr Fische, als wir fangen», klagt der 62-Jährige.
Laut Oberson liegt der Tagesfang seit ein paar Jahren nur noch bei rund fünf Kilogramm Fisch. «Im Vergleich zu früher ist das fünf bis zehn Mal weniger. «Fangen wir heute zehn Kilo, so ist das ein guter Tag», sagt der Fischer.
Zum Broterwerb reichen die Erträge nicht mehr aus. Um zu überleben, müssen die Fischer ihre Ersparnisse anzapfen. Sein 34-jähriger Neffe Nicolas Oberson hat seine Netze sogar an den Nagel gehängt und arbeitet wieder in seinem angestammten Beruf als Schreiner.
Die Behörden haben die Klagen der Fischer erhört. Seit Monatsbeginn schiessen die Wildhüter auf dem Neuenburgersee auf Geheiss der Kantone im Rahmen einer Sonderjagd Kormorane ab. 2020 soll der Fisch fressende Vogel auf dem See offiziell in den Jagdplan aufgenommen worden. Zudem werden ab dem nächsten Jahr Berufsfischer auf den Kormoran anlegen dürfen, wenn er sich in einem Umkreis von 100 Metern der Netze aufhält.
Der Wasservogel ist in der Schweiz zwar nicht geschützt und darf ausserhalb der Fortpflanzungszeit gejagt werden. Bislang galt jedoch die Abmachung, dass der Fischfresser nur auf Flüssen sowie kleineren Gewässern, nicht aber auf den grossen Seen bejagt wird.
Die Interkantonale Fischereikommission für den Neuenburgersee hat in ihrer Sitzung Ende Juni entschieden, von dieser Praxis abzukehren. Das entsprechende Konkordat wird revidiert.
Abschussquoten haben die Kantone nicht festgelegt. Zurzeit rücken ein bis zwei Wildhüter pro Kanton zwei Mal in der Woche aus, um Kormorane abzuschiessen. Wie viele Tiere bislang getötet wurden, können die Behörden nicht sagen. Eine erste Bilanz werde am 10. Oktober gezogen, heisst es.
Die Massnahmen sind umstritten. Naturschützer glauben nicht, dass der schwarz gefiederte Vogel die Lebensgrundlage der Fischer vertilgt. Es gebe keine wissenschaftliche Belege dafür, dass der Vogel einen signifikanten Einfluss auf die Fischbestände im See habe, sagen sie. Opposition gegen die Abschüsse wollen sie aber nicht ergreifen. Der Kormoran sei eine jagdbare und keine bedrohte Tierart.
«Die Jagd auf den Kormoran zu eröffnen, ist zwar gesetzeskonform, ergibt in unseren Augen aber keinen Sinn», sagt Werner Müller, Geschäftsführer der Naturschutzorganisation Birdlife Schweiz, auf Anfrage. Die Fischereierträge folgten vielmehr langfristigen Zyklen, die mit vielen Faktoren zu tun haben, wohl am wenigsten mit der Anzahl Kormorane.
Ein Blick in die Fischereistatistik des Bundes stützt diese Aussage. Seit einem Tief im Jahre 2004 ist der Fang von Felchen im Neuenburgersee bis 2010 kontinuierlich gestiegen. Seither sind die Erträge bis 2017 wieder auf den Stand von 2004 abgesunken. Die Zahl der Kormorane in der Region hingegen hat seit der ersten Zählung 2001 stetig zugenommen.
Ein weiteres Problem ist die Datengrundlage. «Wir wissen nicht, wie viele Fische es im See hat, sondern wie viele man herausnimmt», sagt Müller. Auch gibt es Biologen, die bezweifeln, dass der Kormoran täglich 500 Gramm Fisch frisst. In ihren Augen liegt der Nahrungsbedarf eher bei 150 bis 350 Gramm.
Der Rückgang der Fischereierträge sei möglicherweise auf viele verschiedene Ursachen zurückzuführen, deren Zusammenhänge noch erforscht werden müssten, räumt denn auch die Interkantonale Fischereikommission ein. Die aktuelle Abnahme der Felchenfänge sei wahrscheinlich auf eine Kombination verschiedener Faktoren zurückzuführen.
Die nun getroffenen Massnahmen zielten primär darauf ab, die Auswirkungen von Kormoranen auf die Berufsfischerei zu verringern - unabhängig von der Frage ihres Einflusses auf die Fischbestände, sagt der Wildinspektor des Kantons Neuenburg, Christophe Noël auf Anfrage. Der Kormoran verursache Schäden an den Netzen und an den Fischen darin.
2011 wurden in einem Bundesgerichtsurteil die Schäden pro Fischer auf durchschnittlich rund 2000 Franken im Jahr und auf maximal 2,5 Prozent des durchschnittlichen Bruttojahreseinkommens berechnet, wie Noël. Seither habe sich der Kormoranbestand fast vervierfacht. «Deshalb halten wir die Regulierungsmassnahmen durchaus für gerechtfertigt.»
Politikern verschiedener Couleur gehen diese Massnahmen zu wenig weit. Gleich zu drei Interpellationen aus dem Nationalrat zum Thema Kormoran musste der Bundesrat kürzlich Stellung nehmen. So forderte etwa die Freiburger SP-Nationalrätin Valérie Piller Carrard, dass Eier des Kormorans in den Brutgebieten zerstört werden müssten, um den Vogel effektiv regulieren zu können.
Hingegen steht für die Vogelschützer fest, dass Eingriffe in den Brutplätzen auch in Zukunft ausbleiben müssen. Sie verweisen auf ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, das 2011 in ihren Sinne entschieden hatte.
Die Richter untersagten damals die vom Bundesamt für Umwelt zuvor genehmigten Regulierungsmassnahmen im international bedeutenden Wasservogelreservat Fanel am Neuenburgersee. Sollte es Pläne geben, diesen Entscheid abzuändern, werde sich Birdlife mit voller Kraft zur Wehr setzen, sagt Geschäftsführer Müller.
Vorerst haben die Naturschützer auch den Bundesrat auf ihrer Seite. «Solange die Kantone weder das Ausmass und die Relevanz der vom Kormoran verursachten Schäden an der Berufsfischerei noch die ergriffenen Massnahmen zur Schadenverhütung entsprechend ausweisen, sieht der Bund keinen Bedarf betreffend Erstellung einer Vollzugshilfe», antwortete die Landesregierung Anfang September auf Carrards Vorstoss.
Vielmehr sollten die Fischer zur Schadenverhütung durch den Kormoran darauf verzichten, die Fischabfälle nach dem Ausweiden wieder im See zu entsorgen. In der Romandie ist dies gängige Praxis. Nach Ansicht des Bundesrats werden durch dieses Futterangebot die Vogelbestände künstlich erhöht.
(SDA)