Über den Sempachersee geht der Blick bis zu den Alpen, die den Horizont begrenzen: Schön ist es hier oben im luzernischen Sursee, bei der Kapelle Mariazell. Theresa Rohr wuchs mitten in dieser prächtigen Gegend auf. Doch deren Schönheit nahm sie kaum wahr: «Ich hatte zu arbeiten.» Nein, die Berge schaue sie sich erst heute richtig an.
Die 71-Jährige ist ein ehemaliges Verdingkind. Die Orte ihrer ersten 16 Lebensjahre, die Gegend, in der sie geboren wurde, hat sie schon lange hinter sich gelassen und den hiesigen Dialekt abgelegt. Im Sommer kehrte sie zurück.
In einem katholischen Arbeiterhaushalt aufgewachsen
Den Rucksack am Rücken und die Laufstöcke fest im Griff, schritt sie acht Tage lang die Stationen ihrer Leidensgeschichte ab. «Ich hatte diesen Wunsch schon länger, zu meinem 71. Geburtstag habe ich ihn mir erfüllt.» Sie wollte die Landschaft jener Jahre für sich zurückerobern, die Schauplätze einer Kindheit, die keine war.
Bei der Kapelle oberhalb der Altstadt von Sursee macht sie Rast. Dann beginnt sie zu erzählen.
Zur Welt kommt Theresa Rohr im nahen Wauwil LU. Sie wächst in einem katholischen Arbeiterhaushalt auf. Acht Kinder zählt die mausarme Familie. «Der Vater war ein gutmütiger Mann, nur leider trank er zu viel.»
Die Mutter stirbt, als Theresa klein ist, der Vater heiratet wieder: der erste Bruch im Leben des Mädchens. Die neue Frau quält die Kinder, wo sie kann. «Sie schlug uns, zwang uns, auf spitze Holzscheite zu knien, versalzte uns die Konfi. Essen mussten wir sie trotzdem.» Diesen Geschmack habe sie heute noch im Mund. Gemeinsam mit drei Geschwistern flieht die Siebenjährige vor der Sadistin.
Die Brüder begingen Suizid
Das Quartett packt ein paar Habseligkeiten, wirft den Stab, mit dem die Stiefmutter sie regelmässig durchgeprügelt hat, ins Feld hinaus und zieht eines Nachmittags nach der Schule gemeinsam los. Die kleine Schar kommt nicht weit. Die Polizei greift die Kinder auf. Im Handumdrehen werden sie fremdplatziert. Oder eben: verdingt.
Rohr ist heute die letzte Überlebende dieses Ausbruchsversuchs. Eine Schwester starb vor Jahren an Krebs, die beiden Brüder begingen Suizid. Auch eine damals bereits verdingte Schwester nahm sich im Erwachsenenalter das Leben. «So geht es vielen ehemaligen Verdingkindern. Die psychischen Schäden können noch Jahre später fatale Folgen haben», sagt sie leise.
Die kleine Theresa verschlägt es damals, Anfang der 50er-Jahre, ins nahe Zell LU. Sie soll im Haushalt einer Sägerei aushelfen. «Das Gebäude steht aber schon lange nicht mehr», sagt sie. Ein altes Schwarz-Weiss-Foto habe sie auf ihrer Wanderung durch die Gemeinde noch aufgetrieben, mehr nicht.
Keine Zeit für Freundschaften
Die Arbeit bestimmt auch in Zell ihren Alltag. Für Freundschaften mit Gleichaltrigen bleibt keine Zeit. Theresa beginnt die Schule zu schwänzen, aus Angst vor einem Lehrer, der mit Vorliebe Verdingkinder wie sie schlägt.
«Er hatte es auf uns abgesehen. Vielleicht weil wir uns nicht wehren konnten.» Denn kaum jemand hätte sich für solche «angenommenen» Kinder eingesetzt. Nach zweieinhalb Jahren verstösst die neue «Familie» das Mädchen wieder. «Untragbar» sei sie geworden. Sie kommt, nach einer psychiatrischen Abklärung, ins Heim von Mariazell, vor dessen Kapelle sie jetzt die Erinnerungen an ihre Kindheit vorüberziehen lässt.
Heute kann sie im barocken Inneren der Kapelle lachen. Damals war das strengstens verboten. «Noch immer derselbe muffige Geruch», sagt Rohr kopfschüttelnd und betrachtet die Porträts der Märtyrer an den Seitenwänden: «Vor denen habe ich mich immer gefürchtet.» Sie tritt wieder ins Freie. Ein Blick zurück auf das farbenprächtige Wandgemälde der Heiligen Jungfrau.
«Ich habe genug gebetet in meinem Leben», sagt sie und geht weiter.
Ihr Martyrium nahm kein Ende. Zwar seien die Nonnen, die sie in Mariazell unterrichteten, gut zu ihr gewesen. Aber nach nur zwei Jahren schicken die Behörden sie erneut weiter. Diesmal kommt sie bei einer Kleinbauernfamilie unter, in ihrem Geburtsort Wauwil.
Die Eheleute, die nun zu ihr schauen müssten, sind im fortgeschrittenen Alter. Eine erdrückende Stille habe über dem Haus gelegen, sagt Theresa. Die Frau leidet an schweren Depressionen; doch die wahre Bedrohung ist ihr Mann. Er vergeht sich an der Zwölfjährigen. Ihr Vormund will davon nichts hören. Für ihn ist und bleibt Theresa ein Kostenfaktor, eine dicke Akte bestenfalls. Kein kleines Mädchen.
Jahrelange Therapie
Die Befreiung kommt spät. Welschlandjahr in Lausanne, dann Lehre bei der Post in Basel. Weit weg von Wauwil und Sursee und Zell.
Sie berichtet ohne Rührung. Nichts bremst den Schritt der geübten Wanderin. «Im Laufen erzählt es sich einfach besser.» Dass sie aber derart offen sein kann, ist auch das Ergebnis einer jahrelangen Therapie. Dabei habe sie stundenlang auf Sandsäcke eingeschlagen und ihre Peiniger beschimpft.
Der eigene Weg hat ihre Sinne geschärft für die Leidensgenossen aus jenem dunklen Abschnitt der Schweizer Geschichte. Dass die Opfer der administrativen Versorgung und ehemalige Verdingkinder nun endlich vom Staat entschädigt werden, ist auch ihr Verdienst. Seit Jahren engagiert sich Theresa Rohr für die Betroffenen. Und hofft, dass möglichst viele bis zum Frühling ihre Anträge auf Entschädigung einreichen. Sie hat ihren im April abgeschickt. Auch dies war für sie ein kleiner Abschnitt auf dem Weg, der sie nun noch einmal dorthin zurückgeführt hat, wo alles begann. «Schauen Sie sich die Berge an», ruft sie. «Jetzt kann ich sie sehen.»