Syrien erlebt in diesen Tagen etwas Ungewöhnliches: Die Waffen ruhen, und das nach vielen Jahren quasi pausenloser Gewalt. An Sonntag jährt sich der Aufstand gegen die autokratische Herrschaft einer kleinen Elite zum neunten Mal. Damals, am 15. März 2011, zogen in der Hauptstadt Damaskus erstmals Menschen für mehr Freiheit auf die Strasse. Nach neun Jahren Bürgerkrieg ist Syrien nicht mehr dasselbe Land: Hunderttausende sind getötet worden, mehr als zwölf Millionen Menschen vertrieben, riesige Gebiete zerstört.
Nur eines hat sich nicht geändert: Im Präsidentenpalast auf einem Hügel der Hauptstadt regiert noch immer Baschar al-Assad.
Die Herrschaft des 54-Jährigen, mittlerweile fast 20 Jahre an der Macht, scheint gefestigter denn je. Und gerade die vergangenen Monate liefen aus seiner Sicht erfolgreich. Die Truppen der Regierung - unterstützt von der russischen Luftwaffe und pro-iranischen Milizen - haben wichtige Gebiete zurückerobert, so dass Assads Anhänger mittlerweile wieder über mehr als zwei Drittel des Landes herrschen. Den Rebellen, abhängig von der Türkei, bleibt als letztes grosses Rebellengebiet nur noch die Region um die Stadt Idlib im Nordwesten.
Dort gilt seit mehr als einer Woche eine Waffenruhe, auf die sich Russland und Türkei geeinigt hatten. Am Sonntag, dem Jahrestag, wollen die beiden Schutzmächte der Regierung und der Rebellen mit gemeinsamen Patrouillen entlang einer wichtigen Schnellstrasse beginnen, die durch Idlib läuft. Sie einigten sich auch auf «gemeinsame Koordinierungszentren», um die Waffenruhe zu überwachen.
Doch die Kämpfe dürften damit nicht dauerhaft vorbei sein, denn aus den Jahren der Assad-Herrschaft lässt sich ein Muster herauslesen: Der Präsident ist zu keinerlei Kompromissen bereit. Und er verteidigt seine Macht mit allen Mitteln. Wenn es sein muss auch mit rücksichtloser Gewalt.
Diese Herrschaftsmethode hat er von seinem Vater übernommen und sie auch vor neun Jahren konsequent umgesetzt. Damals blickten die Syrer vor allem auf die Stadt Daraa im Süden des Landes, wo Jugendliche Parolen gegen Assad auf Wände gesprüht hatten und in Folterhaft gelandet waren. Wie anderenorts wagen sich auch dort die Menschen zu Protesten auf die Strasse. Assads Antwort: Er schickt Truppen aus Damaskus, die das Feuer auf die Proteste eröffnen. Am 18. März stirbt in Daraa der erste Demonstrant durch die Kugeln der Regierung.
Und wer Assads Botschaft noch nicht verstanden hatte, sollte einige Tage später eine Lektion bekommen, wieder in Daraa. Dort versammeln sich Regierungskritiker über Tage zu einem Protest in einer Moschee. Assad schickt sogar einen Vermittler, allerdings nur zum Schein. Noch eher dieser seinen ausgehandelten Kompromiss an Assads Statthalter übermitteln kann, richten dessen Truppen in der Moschee ein Blutbad an. «Wir hatten keine andere Wahl, als alles im Keim zu ersticken», soll Assad damals einem Vertrauten gesagt haben, wie der Journalist Sam Dagher in seinem akribisch recherchierten Buch «Assad or we burn the country» ("Assad oder wir setzen das Land in Brand") schreibt.
Mehrmals seit Ausbruch des Bürgerkriegs zeigte Assad auch, dass er zu ernsthaften politischen Verhandlungen nicht bereit ist. Jüngstes Beispiel ist der Verfassungsausschuss, der im Herbst unter dem Genfer UN-Dach nach monatelangem Gezerre seine Arbeit aufnahm. Vertreter der Regierung und der Opposition sollen eine neue Verfassung ausarbeiten. Wie wenig Assad davon hält, machte er in einem Interview deutlich, als er erklärte, die Regierung sei eigentlich gar nicht Teil des Ausschusses. Greifbare Ergebnisse des Gremiums bisher: null.
In Interviews bekräftigt Assad beharrlich: Seine Truppen stoppen erst, wenn ganz Syrien wieder unter seiner Herrschaft steht und von «Terroristen befreit» ist. «Terroristen», das sind in seiner Weltsicht nicht nur die Al-Kaida-nahe Miliz Haiat Tahrir al-Scham (HTS), die das Gebiet um Idlib dominiert, oder ausländische Extremisten. «Terroristen» sind für Assad sämtliche Regierungsgegner.
Doch trotz der militärischen Erfolge dürfte es für Assad ein langer Weg bis zur Kontrolle über das ganze Land sein. Seine Armee ist nach neun Jahren Bürgerkrieg ausgelaugt. Auch die ausländischen Milizen an ihrer Seite - mit libanesischen, irakischen, afghanischen und pakistanischen Kämpfern - haben unter hohem Blutzoll gelitten. Generell ist Assad abhängig von der Unterstützung Russlands und des Irans, ohne die seine Macht den Krieg wohl nicht überdauert hätte.
Beide Partner haben sich als treu erwiesen, doch wirtschaftliche Hilfe kann Assad von ihnen nicht erwarten. Die aber wäre dringend nötig, denn das international stark isolierte Land ächzt unter der Last des Krieges. Damaskus fehlen die Ressourcen für einen Wiederaufbau zerstörter Gebiete, der Milliarden kosten wird.
Der Regierung mangelt es nicht zuletzt deshalb an Geld, weil die wichtigsten Ölquellen des Landes im Osten Syriens weiter unter Kontrolle der Kurden stehen. Internationale Sanktionen verschärfen die Lage. Regierungstreue Staatsangestellte in Damaskus klagen, sie kämen mit ihrem Einkommen wegen der starken Inflation kaum noch über die Runden. Das syrische Pfund sank in diesem Frühjahr auf ein Rekordtief zum Dollar. Wegen akuten Treibstoffmangels haben die Syrer in Damaskus oft nur drei Stunden am Tag Strom.
Wie viel bekommt Assad davon mit? Der Präsident verschanzt sich. In der Öffentlichkeit zeigt er sich nur selten. In manchen Gerüchten heisst es sogar, selbst der Präsidentenpalast sei ihm nicht sicher genug, weshalb er sich an einem anderen Ort verbarrikadiere.
Hin und wieder tritt Assads in Interviews auf, so wie vor Kurzem im russischen Staatssender Rossija 24. Auf dem Video sieht er dünn aus, fast hager. Assad macht auch in diesem Gespräch keine Anzeichen, die Offensive gegen die Rebellen stoppen zu wollen. Vielmehr sagt er deutlich: «Aus militärischer Sicht liegt die Priorität auf Idlib.»
(SDA)