Wie Marcel Schenk von Pro Senectute Bern und Fluri am Donnerstag in Bern vor den Medien sagten, sollen künftig sogenannte «Caregivers» Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen unterstützen. Diese Caregivers wollen die Projektinitianten unter den Betroffenen selbst rekrutieren.
Die Caregivers sollen Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen zu Hause oder in Heimen aufsuchen, beraten und unterstützen. Zudem sollen sie in Altersinstitutionen das Personal schulen.
Ziel einer solchen Schulung ist beispielsweise, dass Heimpersonal bei einem früheren Verdingkind nicht einfach so ins Zimmer tritt, wie Nationalrätin Ursula Schneider Schüttel an der Medienkonferenz erläuterte. Sie ist Präsidentin der parlamentarischen Gruppe fürsorgerischer Zwangsmassnahmen.
Den Opfern von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen sei es ein grosses Anliegen, ein selbstbestimmtes Alter verbringen zu können. Sie wollten nicht auch im Alter fremdbestimmt werden, sagte Guido Fluri.
Finden wollen die Initianten des Berner Pilotprojekts die Caregivers beispielsweise an sogenannten Erzählcafés - moderierten Anlässen, wo Menschen Lebensgeschichten austauschen und so den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken.
Das Projekt wird im Kanton Bern durchgeführt, weil in diesem Kanton am meisten Betroffene leben, wie kürzlich an einer Tagung der Schweizerischen Archivdirektorenkonferenz bekannt wurde. Auch Beiständinnen und Beistände sollen für die speziellen Anliegen von Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen im Alter sensibilisiert werden.
Das Projekt und damit die Ausbildung der Caregivers muss noch genau konzipiert werden. Die Guido-Fluri-Stiftung des Vaters der inzwischen zurückgezogenen Wiedergutmachungsinitiative wird das Projekt finanziell unterstützen.
Die meisten Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen seien heute zwischen 70 und 80 Jahre alt, sagte Fluri weiter. Viele wüssten aber nicht, wie sie das Ziel des selbstbestimmten Alters erreichen könnten. Dafür brauche es dieses Projekt. «Wir müssen rasch tätig werden, damit sich die traumatisierten älteren Menschen zu Hause und in den Altersinstitutionen sicher und aufgehoben fühlen», so Fluri.
Der Bundesrat hat am Mittwoch bekanntgegeben, dass er just bei solchen Selbsthilfemassnahmen ansetzt, um den Opfern fürsorgerischer Massnahmen zu helfen. Die Finanzkommission des Ständerats beantragt, den vom Bundesrat für die Unterstützung solcher Projekte vorgesehenen Budgetbetrag stark aufzustocken.
Fluri zog die Wiedergutmachungsinitiative 2016 zurück, nachdem sich die eidgenössischen Räte auf einen Gegenvorschlag geeinigt hatten. Dieser sieht vor, dass der Bund an rund 12'000 bis 15'000 anspruchsberechtigte Opfer einen Solidaritätsbeitrag bezahlt.
Diese Beiträge sollen bis März 2020 ausgezahlt sein. Fluri lobte am Donnerstag vor den Medien die Arbeit des Bundesamts für Justiz. Nach der Auszahlung des Geldes müsse aber die Hilfe an die Betroffenen weitergehen.
Gemäss Forschungsergebnissen wurden im Lauf des 20. Jahrhunderts mindestens 60'000 Personen in 648 Institutionen in der Schweiz unter Zwang administrativ versorgt. Diese Personen wurden ihrer Freiheit beraubt und in eine geschlossene Anstalt gesperrt. Weil es keine Rechtsgrundlage gab, wurde die administrative Versorgung für viele Zwecke genutzt.
Sie wurde etwa zur Armutsbekämpfung, im Kampf gegen Alkoholismus oder zur Durchsetzung sozialer und moralischer Standards - insbesondere für Frauen - eingesetzt. Die Massnahme wurde schliesslich auch zum Instrument der «Umerziehung» für Jugendliche, die als rebellisch galten. Hinzu kamen Fremdplatzierungen wie die Verdingung von Kindern.
(SDA)