Fest vereint stand die Schweiz hinter dem Bundesrat, als er Mitte März den Corona-Notstand erklärte und das öffentliche Leben lahmlegte. Bilder von überfüllten Spitälern in Norditalien und Kolonnen von Militärfahrzeugen, die Särge abtransportieren, hatten Eindruck gemacht. Wirtschaftsführer und Politiker sprachen dem Bundesrat reihenweise ihr Vertrauen aus. Die Medien zeigten sich aussergewöhnlich handzahm.
Inzwischen ist es vorbei mit der Eintracht. Seit es darum geht, wie das Land zur Normalität zurückfindet, scheint es der Bundesrat keinem mehr recht zu machen: Zu zögerlich und willkürlich sei der Öffnungsfahrplan, so die Kritik.
Weil Corona das Gesundheitssystem in der Deutschschweiz nicht annähernd an den Anschlag gebracht hat, häufen sich zudem generelle Zweifel an der Notwendigkeit der verhängten Corona-Massnahmen. «War der Shutdown ein grotesker Irrtum, eine kollektive Überreaktion der Angst?», fragt SVP-Nationalrat Roger Köppel (55) in seiner «Weltwoche».
Verharmloser sind immer noch skeptisch
Corona-Skeptiker verhöhnen Wissenschaftler, die davor gewarnt hatten, dass ohne Gegenmassnahmen Zehntausende sterben könnten. Und sie stellen infrage, ob die ausgewiesenen Todesopfer tatsächlich an Corona gestorben sind – oder lediglich «mit Corona». Das Fazit der Verharmloser: Covid-19 ist nicht schlimmer als die Grippe.
Zahlen des Bundesamts für Statistik belegen nun das Gegenteil – und zwar eindrücklich. Am Freitag publizierte die Behörde erstmals Todeszahlen, aufgeschlüsselt nach Kantonen und Kalenderwochen. SonntagsBlick hat die Zahlen ausgewertet. Ergebnis: Im Kanton Tessin, wo sich das Coronavirus lange unbehelligt ausbreiten konnte, starben in den vergangenen Wochen doppelt so viele Menschen wie zu normalen Zeiten – und das über alle Altersgruppen hinweg betrachtet.
In den Jahren 2015 bis 2019 waren im Tessin zwischen Mitte März und Mitte April durchschnittlich 62 Menschen pro Woche verstorben. Im Jahr der Corona-Pandemie verzeichneten die Tessiner Behörden in der gleichen Periode plötzlich 488 Tote. Pro Woche verloren demnach 122 Menschen ihr Leben – 97 Prozent mehr. Eine Übersterblichkeit, wie sie die Schweiz noch nie gesehen hat – und das trotz Lockdown. Zum Vergleich: Die höhere Todesziffer durch die saisonale Grippe betrug in diesem Winter knapp 10 Prozent. In schlimmen Grippejahren wie 2017 war eine Übersterblichkeit von rund 25 Prozent zu beobachten.
Übersterblichkeit durch Corona unbestritten
Olivia Keiser, Epidemiologin der Universität Genf, weist darauf hin, dass man nicht mit Sicherheit sagen könne, ob die zusätzlichen Personen einzig an Corona gestorben seien: «Einige Menschen sind vielleicht auch an den indirekten Folgen der Krise gestorben. Zum Beispiel, weil der Zugang zur medizinischen Versorgung weniger gut funktionierte oder weil die Leute Angst hatten, rechtzeitig ins Spital zu gehen.» Dass die Übersterblichkeit durch Covid-19 ausgelöst wurde, sei aber unbestritten. Keiser: «Die Zahlen sprechen für sich.»
Doch nicht nur für das Tessin zeigen die neuen Zahlen des Bundes eine deutliche Übersterblichkeit durch das Coronavirus. Auch in den Kantonen Genf und Waadt starben massiv mehr Menschen als sonst: Die Waadt verzeichnete im Schnitt der vergangenen fünf Jahre 107 Tote pro Woche, in den vier Wochen nach dem Lockdown waren es durchschnittlich 155.
Auch das Beispiel Genf spricht eine klare Sprache: Im Stadtkanton wurden bis vor kurzem nie mehr als 100 Todesfälle pro Woche registriert. Der bisherige Höchstwert waren 92 in der ersten März-Woche 2018. In den drei Wochen vom 23. März bis zum 12. April dieses Jahres verzeichnete Genf gleich drei Mal in Folge mehr als 100 Tote (110, 122, 111).
Übersterblichkeit von 22 Prozent
Für die meisten Deutschschweizer Kantone zeigt die Statistik derweil keine oder eine sehr geringe Übersterblichkeit. Weil die Todeszahlen in der Romandie und im Tessin aber derart stark anstiegen, ist für die gesamte Schweiz eine Übersterblichkeit von 22 Prozent zu verzeichnen.
Bedeutsam sind die Zahlen aus der lateinischen Schweiz aber aus einem anderen Grund: Sie geben eine vage Vorstellung von dem, was der Deutschschweiz gedroht hätte, wären keine Schutzmassnahmen ergriffen worden.
Dazu die Epidemiologin Keiser aus Genf: «Ohne die Massnahmen des Bundes hätten wir auch in der Deutschschweiz einen starken Anstieg der Fallzahlen gehabt. Und das hätte dann ebenfalls zu deutlich mehr Todesfällen geführt.»
Was die Statistiken nicht zeigen: Jede Zahl steht für Menschen, die ihr Leben verloren haben, die ihre Liebsten trauernd zurücklassen. «In tiefem Schmerz und fassungslos müssen wir von unserem innig geliebten Mann, unserem lieben Vater, Opa, Schwiegersohn, Schwiegervater, Onkel, Schwager, Neffen und Freund Abschied nehmen», hiess es diese Woche in einer Todesanzeige in der «NZZ». Der Verstorbene ist Stefan Lippe (64), von 2009 bis 2012 Konzernchef des Rückversicherers Swiss Re. Er sei an den Folgen des Coronavirus gestorben. «Unerwartet und viel zu jung.»
Das Coronavirus beschäftigt aktuell die ganze Welt und täglich gibt es neue Entwicklungen. Alle aktuellen Informationen rund ums Thema gibt es im Coronavirus-Ticker.
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