Es fängt frühmorgens an. Die wenigsten drücken den Knopf eines Weckers, den Alarm stellt ein sanftes Streichen über den Touchscreen des Smartphones ab. So geht es weiter. Den ganzen Tag. Wann kommt das nächste Tram? Wo ist in der Nähe ein Café? Hat es schon geöffnet?
Fragen über Fragen, die das Handy schnell und zuverlässig beantwortet. 1,9 Milliarden Smartphone-Nutzer gibt es laut Statista, dem deutschen Online-Portal für Statistik, schon jetzt weltweit – Tag für Tag werden es mehr. Rund 70 Prozent der Schweizer haben eines.
Eine eben veröffentlichte Studie des Analyse-Unternehmens Flurry zeigt die Kehrseite des Booms. Und die ist beängstigend: 280 Millionen Menschen auf der Welt sind handysüchtig. Das heisst, sie schauen mehr als 60-mal pro Tag auf ihr Smartphone, um irgendeine App zu benutzen, zu chatten oder Mails zu checken. Zum Vergleich: 2014 zählte die Studie 176 Millionen sogenannter Mobile Addicts, also Handysüchtige. Das ist ein Anstieg von 59 Prozent.
Normale User entsperren ihr Handy höchstens 16-mal pro Tag. Von ihnen gibt es 26 Prozent mehr: 2014 waren es 784 Millionen, heute sind es 985 Millionen. Von der dritten Nutzer-Kategorie, den sogenannten Super-Usern (sie schauen 16- bis 60-mal täglich aufs Handy), gibt es mittlerweile 590 Millionen. 34 Prozent mehr als im letzten Jahr – Tendenz steigend.
Grösste Suchtfaktoren: Kurznachrichtendienste wie Whatsapp und soziale Netzwerke wie Facebook, Twitter oder Instagram. Auch Spiele sind ein beliebter Zeitvertreib.
Was harmlos klingt, wird schnell zum echten Problem, weiss Berater Christian Rieder (33) von Sucht Wallis: «Handysucht muss man genauso ernst nehmen wie Alkohol- oder Drogensucht.» Immer wieder suchen ihn Eltern auf, die sich Sorgen um ihre Kinder machen. «Es ist Alltag geworden, dass Kinder und Jugendliche online- oder spielsüchtig sind. Durch die Apps auf den Handys hat das mittlerweile ganz andere Dimensionen angenommen», sagt Experte Rieder.
Wofür das Handy eigentlich da ist, nämlich zum Telefonieren, würden viele vergessen. Seine grösste Sorge: Dass die Süchtigen sich abkapseln, nur in ihrer digitalen Welt leben und sich nicht mehr mit jemandem persönlich unterhalten. Selbst beim Essen liegt das Handy immer neben Messer und Gabel. Der Experte: «Da kann es in der Familie oder mit Freunden schnell zum Konflikt kommen.»
Sich von dieser Sucht zu befreien, ist hart, aber möglich. Rieder: «Ich habe bei Erwachsenen schon erlebt, dass sie einen Digitalentzug gemacht haben. Heisst: Wecker statt Handy, Bücher statt Fernseher.» Für eine gewisse Zeit sei das eine gute Möglichkeit, um vom permanent Online-Sein wegzukommen.
Aber: «Heutzutage muss man einfach digital sein, um in der Gesellschaft nicht plötzlich hinterherzuhinken.» Trotzdem sei diese Art von digitaler Entgiftung der perfekte Start, um das Handy wieder bewusst und kontrolliert zu benutzen.
Zwar ist es laut dem Experten schwer, Vergleiche zwischen den unterschiedlichen Süchten zu ziehen. Die Handysucht hat dafür aber einen ganz fiesen Haken: Man kommt davon fast schwerer los, als von einer rein körperlichen Sucht. Denn: Ein Alkoholiker kann ohne Alkohol leben. Aber auf Handy, Internet oder andere moderne Medien zu verzichten, ist beinahe unmöglich.