Zusammenrücken auf Distanz
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So geht es Auslandschweizern:Zusammenrücken auf Distanz

So geht es Auslandschweizern während Corona
Zusammenrücken auf Distanz

Es gibt mehr als 770'000 Auslandschweizer. Wegen Corona haben sie Heimat, Familie und Freunde seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr gesehen. Wir haben drei am anderen Ende der Welt erreicht und gefragt, wie es ihnen geht und was diese lange Trennung mit ihnen macht.
Publiziert: 10.10.2020 um 14:12 Uhr
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Aktualisiert: 11.10.2020 um 07:55 Uhr
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Wie geht es eigentlich Auslandschweizern? Wegen Corona haben sie Heimat, Familie und Freunde seit gefühlten Ewigkeiten nicht mehr gesehen.
Foto: Shutterstock
Alexandra Fitz

Ihre Mutter ist im Spital. Ihre beste Freundin hat geheiratet. Und sie sitzt 9350 Kilometer entfernt fest. Schriftstellerin und SonntagsBlick-Kolumnistin Milena Moser (57) kommt, seit sie in die USA ausgewandert ist, eigentlich zweimal im Jahr zurück in die Schweiz. Kinder sehen, Mutter besuchen, Freundinnen treffen, Kurse geben, Lesungen halten. Vier bis sechs Wochen. Doch 2020 ist alles anders.

Also bleibt sie erst mal. In diesem Jahr «bleiben» viele. Wir können uns nicht frei bewegen, hinfliegen, wo wir wollen, Grenzen passieren. Es gibt Einreiseverbote, Quarantänelisten und Risikogebiete. Und vor allem überall und immer dieses mulmige Gefühl. Für Auslandschweizer, die nicht gerade ein paar Autostunden im Nachbarland leben, bedeutet diese Pandemie auch Trennung. Trennung von den Liebsten, der Familie und den Freunden in der Schweiz. Und obwohl sie Profis sind im Beziehungen-auf-Distanz-Führen, ist das eine neue Situation. Weil sie nicht einfach in die alte Heimat können, wann sie wollen.

Wir haben drei Auslandschweizer auf drei Kontinenten gefragt: Wie ist es, wenn man nicht weiss, ob man an Weihnachten heim kann? Ob sich die Beziehungen seit Corona verändert haben? Ob man sich gar näher kam als sonst? Dankbarer ist?

Schätzen und vermissen

Von Milena Moser aus den USA hören wir: «Mit der Distanz schätzt man Beziehungen mehr.» Ständig «I love you» zu sagen, sei sehr amerikanisch. In der Schweiz würde man diese Worte selten sagen, und wenn, dann bloss für romantische Beziehungen. Auch sie habe früher ihren Kindern und Freunden selten gesagt, dass sie sie liebt oder gern hat. Das mache sie jetzt öfter. Aber das habe Amerika sie gelehrt, nicht Corona.

«Interessanterweise sind wir zusammengerutscht.» Dieser Satz bleibt aus Peru hängen. Mario Urech (36), seit neun Jahren in Südamerika, sagt, er habe sich in den letzten Monaten mit seinen Liebsten, die über 10'000 Kilometer entfernt in der Schweiz leben, mehr ausgetauscht. Das habe ihm sehr geholfen.

Sie sei niemand, der Heimweh habe. Aber als die Grenzen zu waren und es keine Option mehr gab, nach Hause zu kommen, sei ein noch nie da gewesenes Verlangen hochgekommen, sagt die 29-jährige Nadine Frick, die vor zwei Jahren nach Australien zog. Sie gestand sich: «Ich muss nach Hause. Ich vermisse daheim total.» Sie packte ihre Koffer.

Milena Moser schaut Sohn beim Kochen zu

Milena Moser hat ihre Kinder ein Jahr nicht gesehen und beschreibt dies so: «Ich vermisse sie, ob ich sie zwei Tage nicht sehe, zwei Wochen, oder zwei Monate. Die Zeit, die wir verbringen, ist umso kostbarer und intensiver.» Moser erzählt, dass sie ihrem jüngeren Sohn via Video zuschaut, wie er kocht oder Pflanzen giesst. So sei sie ein wenig bei seinem Alltag dabei. «Ich starre dann in den Bildschirm», sagt Moser. Wie oft hat sie Kontakt mit ihren Kindern? «So oft sie mich zurückrufen», sagt sie lachend. Sie schreibe meist ein SMS: «Hast du Zeit?», und manchmal am nächsten Tag noch eines. Es liege in der Natur der Sache, dass Eltern ihre Kinder mehr vermissen.

Dass die technischen Hilfsmittel ein Geschenk sind, weiss Moser schon lange. Auch das lehrten sie die Amis. Das Land sei so gross, da studieren die Kinder oft Tausende Kilometer weit entfernt. Das Geld ist nicht da, um ständig hin und her zu fliegen. «Ich kann meine beiden Söhne trotzdem sehen. Das ist grandios.» Doch auch die Schriftstellerin erlebt schwierige Situationen. Etwa als ihr jüngerer Sohn Anfang der Pandemie Zivildienst im Spital gemacht hat. «Ich hatte Angst. Wenn da etwas gewesen wäre, hätte ich nicht ausreisen und bei ihm sein können.» Derzeit sorgt sie sich um ihre 87-jährige Mutter. Ihr versprach sie, wenn etwas passiere, ins nächste Flugzeug zu hüpfen und zu kommen. Aber für Moser ist eine Ausreise aus den USA gerade keine gute Idee. Nicht nur wegen Corona, sondern auch wegen den ständig verschärften Einwanderungsbedingungen. Reist sie jetzt aus, kommt sie nicht mehr zurück. Das will niemand, auch nicht ihre Mutter.

Mit Distanzbeziehungen hat die 57-Jährige Erfahrung. Sie wanderte vor fünf Jahren das zweite Mal aus. Moser weiss: Enge Beziehungen werden durch die geografische Trennung verstärkt. «Wenn du jemandem nahe bist, vermisst du ihn mehr und suchst Möglichkeiten, in Kontakt zu treten.» Moser schickt manchmal Schnickschnack nach Hause. Ihren Kindern grüne Cornflakes, ihrer Mutter Blumen. Aber im Moment geht auch das nicht. Die Post in den USA steckt in einer tiefen Krise. Pakete brauchen Wochen oder kommen gar nicht an. Durch die Corona-Pandemie wurde die Lage noch schlimmer.

Im Corona-Hotspot von Südamerika

Auch der Aarauer Mario Urech weiss nicht, wann er das nächste Mal auf Besuch kommt. Er lebt seit 2011 in Perus Hauptstadt Lima. Der Unternehmer und Berater für internationale Unternehmen in Lateinamerika ist verheiratet und hat eine Tochter.

Seit März gibt es aus Peru keine internationalen Flüge mehr. Nur humanitäre Flüge, gedacht für Touristen, die nach Hause wollen. Ob der 36-Jährige bei einer Ausreise in die Schweiz hinterher wieder ins Land käme, ist unklar. Seit Anfang Oktober fliegt man immerhin wieder mit Linienflügen in Nachbarländer. Urech erzählt von der Situation in Peru. Wie komplett isoliert man während des Lockdowns von Mitte März bis Juli gewesen sei, wie streng reguliert alles war. Einmal am Tag durfte man zum Einkaufen raus, nicht mehr als 500 Meter vom Haus weg, Polizei und Militär kontrollierten. Nach Brasilien war Peru der zweite Corona-Hotspot in Südamerika. Die vielen Tagelöhner mussten raus, um zu überleben. Das führte zu Ansteckungsherden. Im Kombination mit der ungenügenden Infrastruktur im Gesundheitssystem fatal.

Schöne Erinnerungen teilen

Was Urech in dieser Zeit half: Er schwelgte in schönen Erinnerungen. Diese helfen, über die Distanz hinwegzukommen – speziell während Corona. Er schaue jetzt häufiger Fotos an von Familie und Freunden. Von Festen und Reisen. Er ruft auf diese Weise wertvolle Zeiten ab und verschickt diese Momente, um seinen Liebsten zu sagen: Ich denke an dich. «Es wird dir bewusst, was du vorher alles hattest. An Möglichkeiten, an Freiheiten.» Man habe es einfach als «normal» angenommen. Nun bekomme das alles einen anderen Wert. Was schön sei.

Wir sind dankbarer seit Corona. Das besagt auch eine aktuelle Studie der Online-Partneragentur Parship, die 1000 Schweizer befragte. Dankbarer sind wir vor allem für die Gesundheit – die eigene und jene der Familie. «In Zeiten des Überflusses nehmen wir vieles als selbstverständlich wahr. Erst in schwierigen Zeiten merken wir, was uns wirklich wichtig ist und worauf wir keinesfalls verzichten wollen», erklärt die Psychotherapeutin Dania Schiftan.

Urech erzählt, wie seine Mutter Schlag auf Schlag in die Schweiz zurückkehren musste. Im März war sie zu Besuch in Lima. Mit einem der letzten Flieger flog sie nach Hause. Die Verabschiedung sei ein komischer Moment gewesen: «Sie ging, weil sie musste. Und liess uns zurück, ohne zu wissen, wann wir uns wiedersehen.»

«Das, was am meisten zählt, ist die Familie»

Nadine Frick aus Liechtenstein hat mit ihrem Auswandererland abgeschlossen. Die Monate während der Pandemie haben ihr noch mal gezeigt, was ihr wichtig ist im Leben. «Das, was am meisten zählt, ist die Familie. Und jetzt bin ich zu weit weg von ihr.» Mit «jetzt» meint die 29-Jährige Corona, mit «weit weg» meint sie Down Under.

Vor zwei Jahren zog die Liechtensteinerin alleine nach Sydney. Sie hatte ein Visum für zwei Jahre und einen Job in der Kommunikation eines Start-ups. Doch es gab viele Entlassungen, auch sie verlor ihre Stelle. Frick hatte 60 Tage Zeit, eine neue Arbeit zu finden. Als immer klarer wurde, dass ihr Plan nicht aufgehen würde und die Massnahmen auch in Australien strikter wurden, sehnte sie sich nach ihrer Familie. Anfang August stand sie mit zwei Koffern am Zürcher Flughafen. Sie ist wieder bei ihren Eltern eingezogen und macht sich gerade selbständig.

Auch Frick erzählt von den vielen Videocalls, für die plötzlich Zeit da war, und fragt, warum man nicht schon vorher über Zoom sprach und Online-Hauspartys feierte. Es musste erst Corona kommen, dass man seine Distanzbeziehungen auf diese Art festigte. Einmal haben ihre Eltern den Anruf sogar auf den Fernseher gebeamt und die Grossmutter eingeladen. Dass sie die Enkelin am anderen Ende der Welt auch mal wieder sehen konnte.

Hat ihre Familie erwartet, dass sie in so einer Situation heimkommt? «Das haben sie immer. Das hat mit Corona nichts zu tun», sagt Frick lachend. Ihre Eltern haben sich nie gross Sorgen gemacht, sie wussten, ihre Tochter kommt klar. Aber als ihr Job weg war und sie während einer globalen Pandemie ganz alleine in Sydney sass, sagte ihr Vater: «Es wird Zeit, dass du wieder kommst!»

Vieles wird einem bewusster

«Ich habe nie darüber nachgedacht, was es für ein Luxus ist, dass zwischen mir und daheim nur ein Flug ist», sagt Frick. Sie sei so viel geflogen und nie dankbar gewesen. Jetzt sei ihr vieles bewusster geworden.

Das haben ihr auch andere Liechtensteiner im Ausland bestätigt. Frick lancierte den Podcast «Liechtensteiner*innen im Ausland». 14 Folgen gibt es bisher. Frick telefonierte mit Singapur, Hongkong, Panama etc. und fragte ihre Gäste, wie sich die globale Pandemie auf ihr Auslandabenteuer auswirkt. Fast alle haben sich hinterfragt: Habe ich die richtige Entscheidung getroffen? Und allen war bewusst, wie privilegiert sie sind, weil sie sagen können: «Wenn alles schiefläuft, gehe ich heim.» Heim ist dieses sichere Land. Heim ist der Ort, den man trotz Jahren im Ausland immer noch Heimat nennt.

Frick ist überrascht, wie viele zusagten. «Sie wollten reden. Sie haben sich nach Nähe gesehnt, nach einem Gespräch im Dialekt. In der Sprache, wo man sich wohlfühlt.»

Corona hält uns gerade ziemlich auf Abstand. Die Auslandschweizer noch mehr. Noch länger. Aber das Virus hat Familien und Freunde auf eine Art auch wieder näher zusammengebracht. Oder wie es Urech aus Peru sagen würde: «Wir sind zusammengerutscht.»

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