Sihlcity
Die Stadt der Pioniere

Publiziert: 09.03.2007 um 14:58 Uhr
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Aktualisiert: 04.10.2018 um 17:55 Uhr
Von Fred David
«Einkaufscenter» ist zu wenig. «Urban Entertainment Center» nennt sich der gigantische Komplex, der am 22. März in Zürich-Süd Eröffnung feiert. Täglich zwanzigtausend Besucher sollen dann über das futuristische Treppenhaus eine ganz neue Welt entdecken, shoppen und geniessen:

Wer hier sein Geschäft aufmacht, ist ganz vorne mit dabei.

Sich an die Fersen von Pionieren zu heften, ist anstrengend, obwohl man ihnen auf dem Gelände der ehemaligen Papierfabrik an der Sihl alle naselang über den Weg läuft. Falls sie nicht gerade in der Welt herumdüsen. Dr. Wolf Wagschal, 38, erreichen wir via Handy irgendwo in Arizona. Er hält einen Vortrag vor 75 Top-Leuten aus der internationalen Gastroszene. Sie sollen von seinen Konzepten lernen. Auch von der Sihlcity, dem neuen Zürcher Fun-, Shopping- und Sonstwie-Center. Wiedikon ist jetzt «internäschänell». Noch nicht eröffnet, aber schon fast legendär, suggerieren die Botschaften, die aus dem Innern des Grossprojekts dringen. In Zürich hat man im Umgang mit Superlativen halt ein leichteres Händchen als anderswo in der Schweiz.

«For schure!», prustet Mister Wagschal. Seine Rüsterei, ein Grossrestaurant in der alten Papierhalle, mit viel Holz und Tuch, schwebenden Tischen und klirrenden Kronleuchtern, entworfen vom Zermatter Designer Heinz Julen, wird pünktlich auf den 22. März zur Einweihung fertig sein. 30 «boys and girls» hat er schon vor Wochen als Kellner «gecastet». Gastronomie ist heute auch Showbiz. Ein wenig jedenfalls. Ein «Gspüri» für Dienstleistung entwickeln. «In der Schweiz nicht gerade eine Nationaltugend, nöd wahrrr?»

Gemeinsam mit vier Partnern – unter ihnen der Neffe des gewesenen Milliardärs Martin Ebner – mischt der Kanadier mit Schweizerpass seit ein paar Jahren die Zürcher Gastroszene erfolgreich mit neuen Ideen auf. Die etablierten Gross-Wirte der Stadt reagieren etwas neidisch, wenn sein Name fällt. Wagschals Partys aber werden vom handverlesenen Publikum geschätzt. Zur Rüsterei-Eröffnung wird auch einer auftauchen, der sonst nie auftaucht: Marc Rich. Der Milliardär aus Zug galt einmal als bekanntester Steuerbetrüger der USA.

Passt das zur Sihlcity? Nun ja. Schräges, Kunterbuntes und Schillerndes gehört zu diesem bisher einzigartigen Konzept des neusten Konsumtempels der Schweiz wohl doch dazu.

Mit Allahs Hilfe zum Geschäftserfolg

Hakan Gürkaynak, 41, ist etwas leiser, aber ebenso ein Chrampfer unter Dauerstrom. Ihn erwischen wir in Istanbul, gleichfalls übers Handy und wundern uns über sein akzentfreies Schwäbisch. «Jo, jo», er ist grad beim Einkauf. Stoffe, Nähzutaten. Der Türke aus Ravensburg, ein Secondo, bringt sein neues Business in der Sihlcity ebenso rasch auf den Punkt wie der Gastro-Düsentrieb aus Toronto. Ohne Grounding wäre der ehemalige Swissair-Manager, zuständig für den Einkauf von Büromaterial, womöglich nie in der Sihl-Mall gelandet. 2005 machte er sich gemeinsam mit einem Partner selbständig. «Türken sind geborene Händler und Unternehmer. Der Bazar liegt uns im Blut.» Scheint so, denn die Stecknadel AG in der Sihlcity ist bereits sein vierter Laden. Und das nach gerade zwei Jahren: «Allah hat uns in Zürich gute Plätze zugewiesen.»

Das Geschäft mit seinen Änderungsschneidereien gehobenen Stils läuft gut. Muss es auch. Die Ladenmiete in der Sihlcity kostet ihn schliesslich um die tausend Franken je Quadratmeter und Jahr. Paradeplatz-Niveau. Da müssen Gürkaynaks acht tapfere Schneiderlein viele, viele Nähte nähen. «Volles Risiko», lacht er. Aber der Geschäftsmann ist sich sicher, dass es klappen wird mit seinem Schnellservice, den es bisher so noch nicht gab. Sein Nachbar in Sihlcity, der unvermeidliche Mister Minit, hat mit seinem Absatz- und Schlüsseldienst schliesslich auch einmal winzig klein angefangen. Heute hat Minit 4000 Franchise-Läden in 26 Ländern – und gehört übrigens der UBS. Da bleibt noch einiges zu tun für den agilen Beherrscher der Stecknadel.

Bei der Credit Suisse, der Eigentümerin des hunderttausend Quadratmeter Nutzfläche messenden Edelprojekts, mag man Typen mit solchen Karrieren. Sie wurden handverlesen. Bewerber gab es genug. Beim Gelatiere Leonardo Perizzato, 44, aus Casale Monferrato gingen die CS-Menschen sogar Probe essen, bevor er den Zuschlag bekam. Banktypisch ist das alles nicht, aber die Sihlcity steckt voll von spannenden Pioniergeschichten. Sie passen ins Bild, denn die Bankmanager verstehen sich für einmal selbst als Pioniere – wenn auch als solche mit sehr stark minimiertem Risiko. Irgendwo muss der Jahresreingewinn von zwölf Milliarden Franken (2006) schliesslich herkommen.

Zum Beispiel von «Movers» und «Shakers» wie dem Harvard-Absolventen Wagschal, dem Ex-Swissiar-Mann Gürkaynak, dem Gelatiere Perizzato. Auffallend viele von ihnen sind, vielleicht kein Zufall, Ausländer. Den Schweizern scheint die Risikofreude etwas abhandengekommen zu sein. Sihlcity präsentiert sich hinter den Kulissen jedenfalls als Hochleistungscamp für eigenwillige Unternehmertypen verschiedenster Nationalitäten.

Generalmanager Markus Graf, 57, oberster CS-Herrscher über die «City», sieht alles etwas distanzierter. Er weiss noch gar nicht recht, wie er sein Lieblingskind nennen soll. «Stadt in der Stadt vielleicht?» Passt. Könnte vielleicht aber auch Single-City heissen, für junge und nicht mehr
so junge Singles (sie bilden bei urbanen Haushalten statistisch ja die Mehrheit), gern kaufkräftige, die nicht hierhin zum Einkaufen hetzen, sondern sich ein paar Stunden Zeit nehmen zum Lädelen, Geniessen, «Abchillen» (was so etwas wie Abschalten heisst). Alles auf engem Raum, aber gut durchdacht.

Knutschlogen und Toiletten mit TV

Zwar gibt es nur 16 Wohnungen, dafür ein Dutzend Themen-Restaurants, ein Hotel, rund achtzig Läden, neun Kinosäle (als Novum mit separierten «Knutschlogen» zu neunzig Franken den Abend und im Boden versenkten TV-Bildschirmen in jedem der 25 Damenklos), üppige Sauna- und Wellness-Landschaften (2500 Quadratmeter weit, kerzenbeleuchtet und asiatisch mit Himalaya-Salzstein gestylt, echt, natürlich), ein Kulturhaus samt Kirche (mit einem fünf auf sechs Meter grossen Mosaikfenster des 98-jährigen Luzerner Künstlers Hans Erni). Sowie gut 2000 Arbeitsplätzen für CS-Menschen. Hoffentlich finden die bei all den Verlockungen um sie herum noch Zeit für die Buchhaltung.

Genau genommen ist Sihlcity eine CS-City. Man darf es aber nicht sagen. Das um die 620 Millionen teure Projekt kaufte eine Immobiliengesellschaft der Bank komplett «ab Stange» vom Generalunternehmer Karl Steiner. Der hat es entwickelt und durch sämtliche mühseligen Genehmigungs- und Abstimmungsverfahren geschleust – ein Kunststück höheren Grades. Der behäbige Stadtteil Wiedikon mit seinen 40000 Einwohnern muss sich erst noch daran gewöhnen. Aber auch die skeptischen Gewerbler der Nachbarschaft spüren etwas von einem magnetischen Feld, das sich am Ufer der Sihl langsam aufbaut, wenns vorerst auch mehr die Preise betrifft.

Insgesamt ist es ein vom Zürcher Architekten Theo Hotz durchgestyltes, animierendes Projekt; von den heuschreckengrünen Bänken über die Bahnhofsuhr auf dem Kalanderplatz (Kalander heissen die Pressmaschinen zum Satinieren von Papier) bis zu den Lampenschirmen in der Hauptgasse. Kein Quadratmeter Neuland wurde aufgerissen. Das ist ungewöhnlich für eine Mall dieser Grösse.

Zwei Backsteinbauten der 1835 gegründeten Sihlpapierfabrik hat man samt Fabrikschlot als Kulturhaus und als pochendes Herz der Mini-City stehen lassen. Sogar die energetischen Strömungen sollen stimmig sein. Einigermassen jedenfalls. Das hat Feng-Shui-Spezialist Roland Frutig, 51, festgestellt. Der bodenständige Berner aus dem Dorf Lobsigen analysierte im Auftrag der Bauherren die Anlage nach den fernöstlichen Prinzipien des Wohlbefindens. Ying repräsentiert in dieser Lehre das weibliche Element, Yang das männliche. Frutiger hätte an der Sihl gern viel mehr Ying gehabt: sinnliche Rundungen, die Architektur ist ihm zu zackig und winklig. «Das lenkt positive Strömungen unnötig ab», sagt er.

Die positivsten Kräfte bündeln sich vor der Rüsterei. Dort findet sich unter Steinplatten die einzige Humusschicht des ganzen Geländes. Hokuspokus? Von wegen! Frutiger, ein studierter Jurist, hat im Auftrag der Bank auch schon das Büro des obersten CS-Chefs Oswald Grübel am Zürcher Paradeplatz analysiert. Ergebnis: Dessen Eckzimmer im ersten Stock liegt Feng-Shui-mässig optimal.

Noch ein paar weitere verblüffende Pionierstorys aus der «City». Die von Ida Mäder aus dem schwäbischen Reutlingen zum Beispiel. Als die Betriebswirtschaftlerin und Mutter von zwei kleinen Kindern nach Zürich kam, fiel ihr der Mangel an bezahlbaren Hortplätzen für Kleinkinder auf. Marktlücke erfasst! Vor fünf Jahren machte sie ihre erste Little Star Day School auf. Der Hort in der Sihlcity ist bereits ihr fünfter. Jetzt will sie ihren Care-Service auch grossen Unternehmen anbieten. Sie beschäftigt immerhin 35 Angestellte.

Trost für Grosstadtseelen

Jammerer, in Handel und Gewerbe sonst nicht gerade rar, trifft man hier kaum. «Keine Zeit zum Klönen», sagt der umtriebige Monsieur Pierre, 53. Direkt nach der Coiffeurlehre eröffnete Pierre Binkert im thurgauischen Weinfelden seinen ersten Salon – und ging fast pleite. Nur sein Nebenjob als Discjockey hielt ihn über Wasser: Heute betreibt er erfolgreich zwanzig Salons. Weitere zehn sind in Planung. «Am Stuhl» steht er schon lange nicht mehr: «Ich bin ein angefressener Unternehmer geworden.»
Aus ähnlichem Holz ist der Wellness- und Fun-Bäder-Bauer Andreas Schauer geschnitzt. Sein Büro hat er in einem Städtchen auf der schwäbischen Alp. Als der damals 25-jährige Sportstudent merkte, dass man mit sogenannten «Spas» gutes Geld verdienen kann, machte er sich selbständig. Heute ist er ein internationaler Spezialist, um langweilige Bäder und Fitnessstudios in Trauminseln umzurüsten – und auch profitabel zu betreiben.

Die ungewöhnlichsten Pioniernaturen in dieser «City in the City» sind die drei munteren Pfarrer, ein Katholik, ein Protestant und ein Christkatholik. In der Ecke des ökumenischen Andachtsraums steht ein zusammengerollter Gebetsteppich, im Boden zeigt eine Markierung präzis die Himmelsrichtung nach Mekka an. Vor dem Fenster liegen Thora, Koran und Bibel friedlich nebeneinander: Auch die Geistlichen passen ihr Sortiment den Kundenwünschen an. In diesem konsumrauschig-plauschigen Ambiente wird es viel mehr Einsamkeit geben, als die meisten ahnen. Die drei sind zum Auffangen von verzweifelten Grossstadtseelen da – eine sichere Marktlücke.

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