Sich zu entschuldigen, ist schwer – verzeihen aber auch
Sorry! Äxgüsi! Pardon!

Kaum ein anderes Wort benutzen wir lieber, und um nichts bitten wir so oft: Entschuldigung. Bis wir wirklich etwas angerichtet haben. Dann ist unsere Euphorie auf einen Schlag verflogen.
Publiziert: 17.03.2019 um 11:15 Uhr
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Aktualisiert: 07.05.2019 um 15:08 Uhr
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Wir entschuldigen uns dauernd und überall. Bis wir wirklich etwas angerichtet haben. Dann ist unsere Euphorie mit einem Mal verflogen.
Danny Schlumpf

Wir brauchen es dauernd und überall. Dieses eine Wort. Im Zug zum Beispiel: «Entschuldigung, ist hier noch frei?» Im Supermarkt: «Entschuldigung, haben Sie vielleicht …?» Am Telefon: «Entschuldigung, ich kann jetzt nicht.» Und in sämtlichen öffentlichen Verkehrsmitteln unseres Landes ertönt es fast ununterbrochen: «Für die Verspätung bitten wir Sie …» Schon klar. Worum denn sonst? Gut möglich, dass die Schweizer nicht nur den Sparschäler und das Taschenmesser, sondern auch die Entschuldigung erfunden haben. Für ihren inflationären Gebrauch verantwortlich sind wir auf jeden Fall.

Dabei gibt es in den allermeisten Fällen rein gar nichts zu entschuldigen. Was kann ich dafür, wenn im Zug ein Platz frei ist? Ist es meine Schuld, dass die Supermärkte immer grösser werden? Und wenn wirklich einmal ein Versagen vorliegt wie im Fall der verspäteten Züge: Was nützt mir die Entschuldigung? Anschluss verpasst. Fertig. Aus.

Plötzlich zieren und winden und sträuben wir uns

Warum tun wir das? Warum entschuldigen wir uns bei jeder Gelegenheit, auch wenn weit und breit kein Grund dafür erkennbar ist? «Weil damit ein kleiner Raum der Höflichkeit und des Wohlwollens eröffnet wird», erklärt der Theologieprofessor Joachim Negel (56) von der Universität Freiburg. «Es ist eine Bitte an den anderen, mir gut sein zu wollen. Es ist das Schmiermittel des Alltags. Wenn eine Gesellschaft das nicht hat, wird sie kalt und garstig.»

Die Sache kriegt allerdings einen ganz anderen Dreh, wenn wir tatsächlich etwas angerichtet haben. Dann ist von unserer Entschuldigungseuphorie ganz plötzlich gar nichts mehr zu spüren. Dann zieren und winden und sträuben wir uns. Und dieses eine Wort, das wir so oft und so unbekümmert in den Mund genommen haben, will uns einfach nicht mehr über die Lippen gleiten.

Sich für eine Verspätung zu entschuldigen, für ein unachtsames Wort, für den vergessenen Hochzeitstag – das kriegen wir irgendwie noch hin. Aber für eine Beleidigung, eine Lüge, einen Verrat? Nichts ist schwieriger als das. «In dem Augenblick, in dem wir die Bitte um Entschuldigung äussern, geben wir zu, dass wir uns für das Geschehene verantwortlich fühlen», sagt Klaus-Michael Kodalle (75), emeritierter Philosophie-Professor der Universität Jena und Verfasser des einflussreichen Buchs «Verzeihung denken». «Damit räumen wir der anderen Person die Macht ein, durch einen Akt der Verzeihung unsere Integrität wieder herzustellen.» Wir begeben uns in die Hände eines anderen. Das macht niemand gerne. Allerdings: Wie schwer auch immer eine Entschuldigung uns fällt – zu lange warten sollten wir damit nicht, wie uns die Geschichte von Emma und dem Prinzen lehrt.

Die Geschichte von Emma und dem Prinzen

Es war Mitte Januar im ostenglischen Sandringham, als Emma Fairweather (46) auf ihren Prinzen traf. Die Begegnung war schmerzhaft. Prinz Philip (97), der betagte Gatte der Queen, rammte seinen Land Rover in Miss Fairweathers Kleinwagen. Sie brach sich das Handgelenk. Dann wurde die Sache auch noch ärgerlich: Der Unfallverursacher wollte sich partout nicht bei der Verletzten entschuldigen. Sie aber bestand darauf und wandte sich mit ihrem Anliegen an die Presse. Der Gerügte gab dem öffentlichen Druck schliesslich widerwillig nach und brachte sein Bedauern in einem Brief an die Geschädigte gewunden zum Ausdruck. Zu spät. Der berüchtigte Prinz im Ruhestand hatte nicht nur seinen Rover in den Graben gefahren, sondern einmal mehr auch seinen Ruf.

Doch auch wer zur rechten Zeit die richtigen Worte wählt, ist damit nicht zwangsläufig über dem Berg. Was, wenn Worte gar nicht reichen? Dann wird der Weg erst richtig steil. Und das Risiko des Scheiterns steigt – erst recht, wenn man Politiker ist.

Gouverneur Ralph Northam (59) blickte auf eine erfolgreiche Karriere in seinem Heimatstaat Virginia zurück. Bis Anfang Februar ein Foto aus den Achtzigern auftauchte, das den damaligen Studenten «in blackface» zeigt, das Gesicht mit schwarzer Schuhcreme eingeschmiert. Damals galt es noch als lustig, sich als Schwarzer zu verkleiden. Heute nicht mehr. Schon gar nicht in Virginia mit seiner afroamerikanischen Bevölkerungsmehrheit, die auch die Wahlen entscheidet.

Für Gouverneur Northam hiess das: Er musste sich entschuldigen, und zwar vor so vielen Kameras wie möglich. «In der amerikanischen Politik ist das Publikum der moralische Zuchtmeister, der den Daumen hebt oder senkt», erklärt der politische Philosoph Klaus Kodalle. Und so trat der Gouverneur denn vor die Medien und bekannte, der Studenten-Jux sei rassistisch und beleidigend gewesen. «I am deeply sorry!»

Das Publikum ist der moralische Zuchtmeister

Damit reihte er sich ein in die lange Liste amerikanischer Persönlichkeiten aus Politik, Sport und Showbusiness, die sich öffentlich für ihre Verfehlungen entschuldigten. Professionell orchestriert und inszeniert, mit lautem Pathos und viel Drama. «In der US-amerikanischen Gesellschaft ist die Durchmoralisierung des politischen Raums viel ausgeprägter als in den mitteleuropäischen Demokratien», erläutert Klaus Kodalle. «Nur: die Gesellschaft wird dadurch nicht moralisch besser. Wer sich in einer Welt durchzusetzen versucht, in der die Kultur der Nachsichtigkeit unterentwickelt ist, wird sich dann eben einen Panzer des Zynismus und der moralisierenden Schauspielkunst zulegen.»

Aber manchmal ist es mit Schauspielkunst auch in den USA nicht getan. Aus seinen eigenen Reihen hat der demokratische Gouverneur bereits stapelweise Rücktrittsforderungen erhalten. Und unlängst liess auch die einflussreiche Vereinigung der afroamerikanischen Parlamentarier Virginias verlauten: «Es ist Zeit für ihn zurückzutreten, damit Virginia den Heilungsprozess beginnen kann.»

Entschuldigen soll heilen. Und manchmal reichen Worte dafür nicht. Ein Dilemma für den Gouverneur: Zur Entschuldigung hat er sich durchgerungen, weil er seinen Job behalten will. Nun wird von ihm gefordert, seinen Worten Taten folgen zu lassen. Sonst gibt es keine Vergebung und keine Wiederherstellung der Ehre. Aber wenn er das tut, verliert er seinen Job. Mittlerweile hat er sich entschieden: Er tritt nicht zurück. Worte ja, Taten nein. Am Ende wird der Gouverneur wohl beides verlieren: seinen Job und seine Ehre.

Auf halbem Weg stehen bleiben wollte Jonas Fricker (41) nicht. Im Herbst 2017 meldete der damalige Nationalrat der Grünen sich im Parlament mit einer emotionalen Rede zum Thema Massentierhaltung zu Wort. Und dabei passierte es. Die Worte entglitten ihm und machten sich selbständig, als er Schweinetransporte mit den Massendeportationen von Juden nach Auschwitz verglich. Das war zu viel. Und Jonas Fricker zauderte nicht lange. Er entschuldigte sich. Kurz darauf trat er zurück. Damit unterstrich er die Ernsthaftigkeit seiner Entschuldigung und sicherte sich seine Glaubwürdigkeit – ein Lehrstück, dessen Studium man Politikern wie Ralph Northam dringendst empfehlen möchte.

Unentschuldigt bis zur Blasphemie

Der Gouverneur und der Nationalrat mussten sich für eigene Verfehlungen entschuldigen. Das muss Papst Franziskus (82) nicht. Aber die Aufgabe, als Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche Entschuldigungen auszusprechen, ist mit Sicherheit nicht einfacher. Für die sexuellen Vergehen seiner Geistlichen an Kindern und Nonnen hat sich der Papst mehrfach entschuldigt. Erst kürzlich in einer Privataudienz auch bei zwei Schweizer Missbrauchsopfern (SonntagsBlick berichtete).

Dabei fällt auf: Franziskus bittet stets für Einzeltäter um Vergebung – niemals für die Kirche selbst. Warum? Theologe Joachim Negel: «Weil es für die Kirche kein Strukturproblem ist: Sie kann als Gründung von Jesus Christus gar nicht aus der Wahrheit fallen. Und wer nicht aus der Wahrheit fällt, muss sich auch für nichts entschuldigen.» Stiehlt sich die Kirche mit dieser Selbstimmunisierung nicht aus der Verantwortung? Das könne man so sehen, bestätigt Joachim Negel. Und ergänzt: «Die Übertragung der Unfehlbarkeit Jesu Christi auf die Kirche ist ein Problem. So wird sie identisch mit Jesus. Und läuft damit Gefahr, blasphemisch zu werden.» Wer hätte das gedacht? Die Weigerung, sich zu entschuldigen, kann sogar zur Blasphemie führen.

Sich zu entschuldigen, ist schwer. Verzeihen aber auch. Zwar heisst es im Gebet: «Wie auch wir vergeben unseren Schuldigern», und allenthalben weist Jesus in den Evangelien auf die Bedeutung von Vergebung hin. Doch vielleicht wollen oder können die missbrauchten Kinder und Nonnen ihren Peinigern gar nicht vergeben? Vielleicht wiegen die Taten zu schwer.

Müssen die Menschen einander alles verzeihen? «Selbstverständlich nicht», antwortet Philosoph Kodalle resolut. «Verzeihung ist ein freier Akt.» Eine geschädigte Person habe alle Zeit der Welt, mit sich selbst ins Reine zu kommen. Unsere Entscheidung geht niemanden etwas an. «Auch wenn wir davon überzeugt sind, dass der Geist der Verzeihung das stärkste Zeichen unserer Humanität ist.»

So gesehen ist es doch ganz wohltuend, hin und wieder mit einem einfachen «Entschuldigung, ist hier noch frei?» Platz zu nehmen. Erleichtert darüber, dass es ansonsten gerade nichts zu entschuldigen gibt, das von Belang wäre.

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