Die Petition mit dem Titel «Gerechtigkeit für Betroffene von sexueller Gewalt», an der sich die Schweizer Sektion von Amnesty International und über dreissig Organisationen beteiligt haben, fordert wirksame Massnahmen gegen sexuelle Gewalt an Frauen und eine Reform des veralteten Sexualstrafrechts.
Mit der Petition soll auch das neu gewählte Parlament dazu aufgerufen werden, endlich die Definition von Vergewaltigung und sexueller Nötigung im Strafgesetzbuch zu ändern. Sex brauche die Zustimmung von beiden Beteiligten. Alle sexuellen Handlungen ohne Einwilligung müssten angemessen bestraft werden können.
Schwarzgekleidete Aktivistinnen und Aktivisten mit rotem Handabdruck auf dem Mund umkreisten bei der Übergabe der Petition eine silberfarbene Justitia. Gleichzeitig hielten Unterstützerinnen im Hintergrund grosse Banner und Plakate mit der Aufschrift «Sex ohne Zustimmung ist Vergewaltigung» und «Nur Ja heisst Ja» hoch.
Die Petition wurde im Rahmen der «16 Aktionstage gegen Gewalt an Frauen» und sechs Monate nach der Publikation neuer Zahlen zum Ausmass sexueller Gewalt in der Schweiz überreicht.
Laut einer im Mai publizierten Umfrage von GFS Bern bei rund 4500 Frauen in der Schweiz hat mindestens jede fünfte Frau ab 16 Jahren schon ungewollte sexuelle Handlungen erlebt, mehr als jede zehnte Frau hatte Sex gegen ihren Willen.
Die Dunkelziffer von sexueller Gewalt an Frauen in der Schweiz ist hoch: Fast die Hälfte der Frauen gab bei der Umfrage an, den Vorfall sexueller Gewalt für sich behalten zu haben. Nur 8 Prozent erstatteten Anzeige bei der Polizei. Im vergangenen Jahr wurden insgesamt nur 1291 sexuelle Gewaltdelikte - darunter fallen sexuelle Nötigungen und Vergewaltigungen - von der Polizei registriert.
Nach der geltenden Rechtsprechung wird Geschlechtsverkehr, den nicht beide Sexualpartner wollen, nur dann als schweres Unrecht qualifiziert, wenn das Opfer dazu genötigt wurde. Hat der Täter ohne Einwilligung gehandelt und sich über ein ausdrückliches Nein des Opfers hinweggesetzt, aber kein Nötigungsmittel wie Gewalt oder Drohung angewendet, kann die Tat nicht als Vergewaltigung oder sexuelle Nötigung bestraft werden.
«Das heutige Gesetz verlangt vom Opfer also indirekt, dass es sich zur Wehr setzt und damit weitere Verletzungen in Kauf nimmt», erklärten 22 Strafrechtsprofessorinnen und -professoren Anfang Juni in einem Aufruf im «Tages-Anzeiger". Habe das Opfer zwar deutlich Nein gesagt, sich aber nicht zusätzlich physisch zur Wehr gesetzt, bleibe der massive Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung des Opfers regelmässig straflos. Das Sexualstrafrecht sei veraltet.
Andere Länder haben ihr Recht angepasst. Das Prinzip des gegenseitigen Einverständnisses sei inzwischen in acht europäischen Ländern Realität, schrieb die Waadtländer FDP-Nationalrätin Isabelle Moret in einer Interpellation. Weitere Länder planten Gesetzesänderungen.
Ende August hatte der Bundesrat in seiner Antwort auf die Interpellation von Moret erklärt, dass er eine Reform für nicht angezeigt halte. Ein Reformbedarf werde offensichtlich nicht von allen Kreisen und allen Expertinnen und Experten bejaht, gab der Bundesrat zu bedenken. So hätten sich 32 Strafverteidigerinnen und -verteidiger dazu kritisch geäussert.
Das EJPD hielt am Donnerstag in einer schriftlichen Stellungnahme zur Petition fest, der Bundesrat sei der Auffassung, dass die Schweiz die Anforderungen der Istanbul-Konvention weitestgehend erfülle. Dabei handelt es sich um das Abkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt.
Insbesondere hält der Bundesrat fest, dass das schweizerische Recht den Anforderungen bezüglich Strafbarkeit bei fehlender Freiwilligkeit von sexuellen Handlungen genüge. Für verschiedene Bereiche bei der Verhinderung von häuslicher Gewalt seien zudem die Kantone zuständig. Diese erhielten ab 2020 mit dem neuen Bundesgesetz zur Verbesserung des Schutzes gewaltbetroffener Personen noch bessere Instrumente in die Hand.
Weiter heisst es in der Stellungnahme, EJPD-Vorsteherin Karin Keller-Sutter werde ihr grosses Engagement für einen besseren Schutz vor häuslicher Gewalt auch im Bundesrat fortsetzen. Ihr Vorgehen im Kanton St. Gallen habe Pioniercharakter. Gewalt gegen Frauen sei inakzeptabel, so wie jede Form von Gewalt.
Das EJPD verwies zudem auf die eben verabschiedete Verordnung, die eine rechtliche Grundlage schafft für die Förderung von Massnahmen zur Verhütung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, etwa Bildungsmassnahmen und Präventionsprojekte. Die Landesregierung will dafür drei Millionen Franken einsetzen.
Schliesslich habe das Parlament im Dezember 2018 auch ein Gesetz verabschiedet, das es erlaube, Opfer von häuslicher Gewalt und Stalking künftig mit verschiedenen Massnahmen besser zu schützen. Dazu gehören elektronische Armbänder oder Fussfesseln zur Überwachung von Rayon- und Kontaktverbote.
(SDA)