BLICK-Reportage über die 24-Stunden-Belagerung in Uster ZH
Der Alte stolperte – dann löste sich der Schuss

Von Donnerstag 9 Uhr bis Freitag 14 Uhr verschanzte sich ein bewaffneter und dementer Rentner in Uster in seinem Reiheneinfamilienhaus. Schliesslich verliess er freiwillig seine Wohnung. BLICK-Reporter Flavio Razzino war bei der Belagerung dabei. Lesen Sie hier den Bericht von heute Morgen.
Publiziert: 09.06.2017 um 09:36 Uhr
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Aktualisiert: 09.10.2018 um 17:29 Uhr
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Ausnahmezustand in Uster: Polizisten haben ein Reiheneinfamilienhaus umstellt. Ein bewaffneter und dementer Rentner (74) hatte sich dort um 29 Stunden lang verschanz
Flavio Razzino

Seit über 24 Stunden hält ein bewaffneter Rentner am Herracherweg in Uster die Polizei und die Quartierbewohner in Atem. Er hat sich in seinem Haus verschanzt. Bislang hat die Sondereinheit «Diamant» der Kantonspolizei Zürich auf den Zugriff verzichtet.

Zwar hat sie seit gestern, Donnerstag, 9.30 Uhr, das Reiheneinfamilienhaus umstellt. Bis auf die Zähne bewaffnet warten sie aber seither, dass der verschanzte Rentner einsichtig wird und sich der Polizei stellt. Sich wenn nötig gewaltsam Zutritt verschaffen – das will die Polizei aber offenbar nicht.

Die Situation ist «eingefroren»

BLICK-Reporter Flavio Razzino ist vor Ort.

Zu unberechenbar scheint der 74-jährige Mann zu sein, der von Nachbarn als ruhig und gebrechlich beschrieben wird. Hautkrebs soll er gehabt haben, behaupten andere Nachbarn, er sei an Demenz erkrankt, sagt Kapo-Sprecher Stefan Oberlin gestern Nachmittag und: «Die Polizei konnte die Situation beim älteren Herrn einfrieren.»

Einfrieren. Was das heisst, erleben seither die vielen Polizisten der Kantonspolizei und der Stadtpolizei Uster, aber auch die versammelten Journalisten: ein Wechselspiel zwischen Langeweile und Hochspannung.

Skurrile Szenen vor dem Haus

Gegen 16.30 Uhr am Nachmittag öffnet die Polizei, die zuvor das Gebiet grossräumig abgesperrt hat, plötzlich die Sulzbacherstrasse, die unmittelbar am Haus des bewaffneten Rentners vorbeiführt. Entwarnung?

Für ein paar Minuten spielen sich skurrile Szenen vor dem Tatort ab: Während dick gepanzerte und schwer bewaffnete Sondereinheiten sich mit Helm und Schussweste vor die Haustüre des Rentners robben und darauf achten, nicht im Schussfeld zu stehen, spazieren keine dreissig Meter entfernt Mütter und Väter mit Kinderwägen am Haus des Rentners vorbei. Sie bleiben interessiert stehen und scheinen nicht zu bemerken, dass sie wenigstens theoretisch in Gefahr sein könnten.

Direkte Nachbarn, die das während mehrerer Stunden nicht durften, können nun nach Hause. Es wirkt, als hätte sich die Lage entspannt – ein Ende, rund sieben Stunden später, scheint in Sicht.

Ein Geduldspiel entwickelt sich

Schön wärs. Keine halbe Stunde nach der Öffnung der Sulzbacherstrasse wird es für einen kurzen Moment wieder hektisch vor dem Haus des Rentners. Polizisten scheuchen Gaffer weg, auch die Journalisten müssen nun wieder auf Distanz gehen.

Ein weiterer Van mit Sondereinheiten der Kantonspolizei Zürich fährt vor – zusätzliche Polizisten, die schwarz gekleidet und behelmt zur Eingangstür des Einfamilienhauses traben und Position beziehen. Kommt jetzt der Zugriff?

Bei der Polizei und dem dementen Rentner scheint es ein Geduldspiel geworden zu sein. Irgendwann wird er aufgeben, hoffen die Polizisten vor Ort, dann wäre vielleicht ein Happy-End in diesem Drama möglich.

Gegen 21 Uhr – nach 12 Stunden Belagerungszustand – wird jener Polizist der Sondereinheit Diamant, der mit dem verschanzten Rentner ins Gespräch kommen will, lauter. Das Quartier kann zuhören, wie dafür ausgebildete Polizisten mit Menschen im Ausnahmezustand zu verhandeln versuchen.

«Können Sie gut mit Waffen umgehen?»

Offenbar gibt es ein Thema, bei dem der Rentner ins Plaudern kommt: seine Zeit in der Schweizer Armee. «Wo bist du stationiert gewesen?», wird er gefragt, «Wie hat dein Kommandant geheissen?», «Kannst du gut mit Waffen umgehen?» – aber der Rentner darf auch sagen, ob er Durst und Hunger hat, ob er einen Arzt brauche, oder doch eher Bier wünsche. Selbst nach der Katze des Rentners erkundigt sich die Polizei: «Sollen wir sie mal raus an die frische Luft lassen?»

Immer wieder versucht der Vermittler dabei aufs Ganze zu gehen. «Jetzt komm schon, beweise ein bisschen Mut und komm nach draussen. Sage dir: Hey, Entschuldigung, ich habe einen Fehler gemacht, aber jetzt ist es vorbei.» Der Rentner ist aber auch am späten Abend nicht zu überzeugen. Die laute Stimme des Vermittlers hallt in der Dunkelheit durchs Quartier - eine gespenstige Situation.

Und dann, gegen 22 Uhr, knallt es. Der Rentner hat geschossen! Der Vermittler ruft: «Hey, was hast du gemacht? Hallo? Bist du verletzt?» Der Rentner scheint nicht sofort zu antworten, vor der Wohnung bauen sich wieder mehr Sondereinheiten auf, es wird befürchtet, der Rentner könnte sich selber erschossen haben.

Es riecht nach Alkohol

Doch dann meldet er sich wieder. Es entwickelt sich erneut ein Gespräch zwischen dem Vermittler und dem verschanzten Rentner. «Jetzt komm raus, Marsch!» Der Polizist versucht es nun mit der Stimme eines Kommandanten: «Das war keine Frage, sondern ein Befehl! Weisst du noch, im Militär?» Der Vermittler kann dem 74-Jährigen die Erklärung der Schussabgabe entlocken. Offenbar ist er gestolpert und hat in eine Tür in seinem Haus geschossen. Ihm scheint nichts passiert zu sein. Die Polizisten vor der Haustüre entspannen sich etwas.

Aber es gibt trotz kurzer Dialoge keinen Fortschritt. Im Gegenteil: Der Rentner scheint arg getrunken zu haben. Einmal will der Vermittler vom bewaffneten Mann wissen, ob er eigentlich noch gehen könne, es rieche sogar vor der Haustüre nach Alkohol. 

Irgendwann, nach Mitternacht, ist der Vermittler nicht mehr zu hören. War es eine Zeit lang recht betriebsam vor dem Haus am Herracherweg, kehrt nun Ruhe ein. Offenbar ist der Rentner eingeschlafen, die Polizei klettert zweimal auf sein Dach, doch auch jetzt wagen sie den Zugriff nicht.

Die Nacht bleibt ruhig, der Rentner schlief vermutlich. Am Morgen fuhr die Polizei das Aufgebot wieder hoch. In der Hoffnung, dass der Rentner endlich aufgibt.

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