Zeitdruck im Gesundheitswesen kann gefährlich sein
«Man macht die Menschen krank» – zwei Ärzte packen aus

Eine junge Ärztin und ein erfahrener Hausarzt stellen dem kranken Gesundheitswesen eine Diagnose: Die Medizin hat den Menschen aus dem Auge verloren.
Publiziert: 20.01.2019 um 00:32 Uhr
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Aktualisiert: 06.04.2019 um 21:39 Uhr
  • Zeitdruck führt zu unnötigen und teuren Untersuchungen
  • Spitalärzte können sich nicht lange genug den Patienten widmen
  • Burnouts bei Ärzten sind Alltag
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Was läuft schief im Gesundheitswesen? Die Berner Ärztin Lisa Bircher (32) und der erfahrene Hausarzt Bruno Kissling (69) versuchen, eine Antwort darauf zu geben.
Foto: Peter Gerber
Interview: Dana Liechti, Moritz Kaufmann Fotos: Peter Gerber

Die Krankenkassenprämien schiessen durch die Decke – und doch sind viele nicht zufrieden mit den Leistungen im Gesundheitswesen. Was läuft da schief? Jetzt melden sich zwei zu Wort, die das System sehr genau kennen – weil sie Teil davon sind. Die junge Ärztin Lisa Bircher und der erfahrene Hausarzt Bruno Kissling stellen eine verblüffend einfache Diagnose: Die Medizin hat den Menschen aus dem Auge verloren – was für hohe Kosten sorgt und ­Patienten schadet. Die beiden haben soeben ein Buch dazu veröffentlicht. Jetzt stehen sie dem SonntagsBlick Red und Antwort.

Wenn wir im Freundeskreis über Ärzte sprechen, hören wir immer wieder: Die Patienten fühlen sich nicht ernst genommen.
Bruno Kissling: Man muss sich fragen, was macht eine gute Konsultation aus? ­Zuerst einmal muss eine Beziehung hergestellt werden, die Vertrauen schafft. Der Arzt muss dem Patienten aktiv zuhören. Auf diese Weise kann man gemeinsam entscheiden, was der beste Weg ist. Oft passiert das nicht so, weil wir unter einem eigenartigen Zeitdruck arbeiten. Dann sind Probleme programmiert.

Oft werden Untersuchungen unter Zeitdruck angeordnet. Ist das riskant?
Lisa Bircher: Es kann 
sehr gefährlich sein. Nicht nur wegen möglicher Komplikationen, etwa einer ­allergischen Reaktion auf ein Röntgenkontrastmittel, sondern auch weil schlecht durchdachte Untersuchungen weitere Untersuchungen zur Folge haben.

Warum nimmt man sich dann so wenig Zeit für solche Entscheide?
Bircher: Im Spital merkte ich: Es ist einfach zu viel! Gerade wenn die Leute alt sind und viele Krankheiten haben, kann man sich an Untersuchungen richtig austoben. Fachlich ist das interessant, aber die Frage, was es dieser Person bringt, beantwortet man nicht. Man hat dann eine riesige Medikamentenliste und zig Untersuchungen gemacht, und es führt nicht zu mehr Gesundheit.

All die Untersuchungen, Checks und MRI sind nur Ballast?
Bircher: Das kann sein, ja. Für jemanden, der nur etwas an der Lunge hat, gibt es klare, geprüfte Guide­lines. Wenn man die abhakt, klappt es gut. Wenn der Patient aber 80 ist und schon fünf andere Dia­gnosen hat, ist der Weg vielleicht nicht so sauber.

Lisa Bircher persönlich

Lisa Bircher (32) schloss ihr Medizinstudium 2012 in Bern ab. Danach arbeitete sie unter anderem als Assistenzärztin für Innere Medizin und Palliativmedizin in einem Westschweizer Spital. Nahe am Burnout, kündigte Bircher ihre Anstellung nach zwei Jahren. Nach ihrem momentanen Mutterschaftsurlaub möchte sie in die Kinder- und 
Jugendpsychiatrie.

Lisa Bircher (32) schloss ihr Medizinstudium 2012 in Bern ab. Danach arbeitete sie unter anderem als Assistenzärztin für Innere Medizin und Palliativmedizin in einem Westschweizer Spital. Nahe am Burnout, kündigte Bircher ihre Anstellung nach zwei Jahren. Nach ihrem momentanen Mutterschaftsurlaub möchte sie in die Kinder- und 
Jugendpsychiatrie.

Und schadet dem ­Patienten.
Bircher: So verrückt das klingt, es ist oft schwierig, den Patienten nicht zu schaden! Gerade wenn viele Fachrichtungen beteiligt sind oder die Kommunikation nicht klappt, wenn Patienten verlegt werden.

Sie sagen, das Gesundheitssystem ist grundlegend falsch aufgebaut.
Bircher: Wir orientieren uns zu stark an den medizinischen Möglichkeiten, statt uns zu fragen: Was ist bei einer Krankheit wichtig? Man kann sich vorstellen, wie individuell und delikat solche Entscheide sind. Wir rasseln zu oft darüber hinweg.
Kissling: Meine Diagnose: Das System ist hyperaktiv, es hat ADHS!

Wie kann das System wieder geheilt werden?
Bircher: Es fängt viel früher an. Im Gesundheitswesen zeichnen sich gesellschaftliche Probleme besonders deutlich ab. Stress und Leistungsdruck sind allgegenwärtig. Das macht die Menschen wirklich krank. Tragischerweise trägt die Medizin dazu bei, dass diese Probleme weiterhin bestehen.

Inwiefern?

Bircher: Es gibt zum Beispiel immer mehr Depressionen, auch bei Kindern. Da müsste man fragen: Was sagt uns das? Das weist doch darauf hin, dass uns die Art, wie wir leben, nicht guttut. Indem wir aber sagen, das ist eine Krankheit und dann Me­dikamente verschreiben, normalisieren wir diesen Zustand.

Ein Arzt verbringt seine Zeit in erster Linie damit, Checklisten abzuarbeiten. Wie viel Zeit hat er im Spital effektiv, sich um Patienten zu kümmern?
Bircher: Es gibt ein bestimmtes Zeitfenster für die Visite. Der Oberarzt rechnete mir vor: zehn Minuten pro Patient, plus fünf Minuten für Unvorhersehbares. Dabei passiert ständig Unvorhergesehenes: Der Patient ist auf der Toilette, gerade nicht auffindbar oder sucht noch seine Brille. Zehn Minuten, um jemandem zu begegnen, alles zu besprechen und die Laborwerte anzuschauen? Am Schluss bleiben 20 Sekunden für Empathie. Das ist viel zu kurz! Wie soll das gehen?

Man produziert Überstunden ...
Bircher: Genau. Ich musste mir anhören, dass ich zu ineffizient arbeite. Mit der Zeit merkte ich aber, dass der Fehler nicht bei mir liegt, sondern an diesem System, das die ganze Zeit am oberen Limit läuft.

Eine Studie zeigt, dass Assistenzärzte praktisch jeden Tag 1,5 Stunden Überzeit machen.
Bircher: Ja, die Arbeitszeiten sind unerträglich. Nicht zu vergessen, dass sich diese 1,5 Stunden auf einen Zehn-Stunden-Tag draufschlagen. Noch frappanter fand ich, dass sie herausgefunden haben, dass wir unsere Aktivität im Schnitt alle vier Minuten wechseln. Da ist «Erschöpfung» abends noch eine Untertreibung.

Sie waren nahe an einem Burnout. Da waren Sie wohl nicht die Einzige.
Bircher: Nein, das gehört praktisch zur Tagesordnung.

Was würde helfen?
Bircher: Sich zu fragen: Was ist eigentlich meine Aufgabe? Den Blutdruck des Patienten einzustellen, wenn er wegen etwas anderem im Spital ist? Nein. Das kann man dem Hausarzt überlassen.

Lernt man das nicht in der Ausbildung?
Kissling: Ich arbeite als Lehrarzt am Institut für Hausarztmedizin. Die Studenten haben viel Patientenkontakt und lernen, auf Patienten einzugehen. Sie sind echt gut. Aber unter dem hohen Druck im Spital verlieren sie die Neugier. Dann müssen sie einfach nur noch abhaken, können sich nicht mehr auf den Menschen einlassen. Sie werden ihrer guten Eigenschaften entwöhnt.

Hausarzt Bruno Kissling

Bruno Kissling (69) ist seit mehr als 30 Jahren Hausarzt und Lehrarzt in Bern. Er war zudem in Führungsgremien verschiedener ärztlicher 
Organisationen und ist Autor zweier Bücher. In drei Monaten geht er in Pension. Weil Kissling seine Patienten auch fragt, was sie persönlich beschäftigt, verwechseln sie ihn schon mal mit dem Pfarrer.

Bruno Kissling (69) ist seit mehr als 30 Jahren Hausarzt und Lehrarzt in Bern. Er war zudem in Führungsgremien verschiedener ärztlicher 
Organisationen und ist Autor zweier Bücher. In drei Monaten geht er in Pension. Weil Kissling seine Patienten auch fragt, was sie persönlich beschäftigt, verwechseln sie ihn schon mal mit dem Pfarrer.

Woran liegt das?
Bircher: Schlussendlich liegt es an der Organisation des Spitals.
Kissling: Wir weisen die Leute heute meistens via Notfall ein – eine überlas­tete Pforte. Schwer kranke Leute werden in diesem Gedränge untersucht, Krankengeschichten aufgenommen und Untersuchungen abgehakt, auch das Psychosoziale! Dann kommt der Patient auf die Abteilung. Um eine Beziehung aufzubauen, bräuchte es noch einmal ein richtiges Gespräch. Aber dafür hat man gar keine Zeit, weil man schon wieder andere Untersuchungen organisieren und viel zu lange Berichte schreiben muss, die niemand liest. Man wird «zugemüllt» mit extrem vielen Aufgaben. Und dann wechselt der Arzt noch drei Mal. Später kommen die Patienten zu mir und sagen: «Es hat niemand mit mir gesprochen.»

Was wäre ein Lösungs
ansatz?
Kissling: Innehalten. Mit der Person sprechen, was für sie wichtig ist. Bei einer alten Person gehört auch ihr Lebenshorizont dazu. Vieles könnte man dann wahrscheinlich bleiben lassen. Jede Untersuchung birgt zudem das Risiko, dass unbedeutende Dinge auftauchen, die neue Verunsicherung auslösen. Irgendwo ein Knötchen – und die Person ist schon in der «Mühle» drin. 

Man versetzt Patienten also in unnötige Ängste?
Kissling: Ja. Man macht den Menschen krank.

Sie sagen: Nähme man sich mehr Zeit, würde man unter dem Strich Geld sparen. Wegen der zusätzlichen Arbeitszeit würde das aber zunächst sehr viel mehr kosten.
Kissling: Vielleicht auch nicht. Denn Zeit sparen kann schnell zu unnötigen, kostspieligen Untersuchungen und Therapien führen. Wenn man die Zeit am ­Anfang investiert, wird eher das Angemessene ­getan. Zudem: Arbeitszeit ist in der Medizin das ­Billigste. Sobald man 
aber ein Röntgenbild, ein EKG oder Labor­untersuchungen macht, schlägt es zu Buche.

Fördern die neuen technischen Möglichkeiten denn nicht gerade jene Hochleistungsmedizin, von der Sie versuchen, wegzukommen?
Bircher: Wenn jemand todkrank wird, ist es viel einfacher zu sagen: «Wir haben da noch eine neue Therapie.» Anstatt: «Die Krankheit ist sehr schwer heilbar. Tun Sie Dinge, die Ihnen im Leben wichtig sind.»

Das Buch

Im Buch «Ich stelle mir eine Medizin vor...» thematisieren Ärztin Lisa Bircher und der erfahrene Hausarzt Bruno Kissling unter anderem, wie sich der Zeitdruck auf die Arbeit der Ärzte auswirkt und warum man sich Zeit nehmen sollte für die persönlichen Geschichten der Patienten. Das Buch ist erhältlich bei Rüffer & Rub, 
144 Seiten, ca. 20 Franken

Im Buch «Ich stelle mir eine Medizin vor...» thematisieren Ärztin Lisa Bircher und der erfahrene Hausarzt Bruno Kissling unter anderem, wie sich der Zeitdruck auf die Arbeit der Ärzte auswirkt und warum man sich Zeit nehmen sollte für die persönlichen Geschichten der Patienten. Das Buch ist erhältlich bei Rüffer & Rub, 
144 Seiten, ca. 20 Franken

Sie exponieren sich jetzt als Kritiker des Gesundheitswesens. Wie reagieren Ihre Kollegen?
Kissling: Sie fühlen sich verstanden. Aber Hyper­aktivismus ist ein gesellschaftliches Phänomen. sein Verhalten als Ein­zelner zu ändern, auch 
wenn man es möchte. Die meisten leiden am Handlungszwang dieser Maschinerie, in der sie gefangen sind, in der man nicht aufhören kann mit Behandlungen. 

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