Die Raser von Suhr AG zeigen sich uneinsichtig
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Beiden droht eine hohe Strafe:Die Raser von Suhr AG zeigen sich uneinsichtig

Verkehrspsychologe erklärt den typischen Raser
Darum rasen Raser

Nach ihrer Raserei versuchten die Temposünder von Suhr AG im BLICK, sich rauszureden. Jetzt erklärt Verkehrspsychologe Urs Gerhard (69), wie der klassische Raser aussieht. Und warum Raser rasen.
Publiziert: 10.07.2019 um 23:48 Uhr
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Aktualisiert: 12.07.2019 um 13:19 Uhr
  • Verkehrspsychologe Urs Gerhard erklärt
  • Sie sind jung, haben Migrationshintergrund, schlechte Bildung, Minderwertigkeitskomplexe
  • und die meisten werden wieder rasen
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Milutin S. (20) wurde mit 145 km/h in Suhr AG geblitzt.
Foto: Ralph Donghi
Nicolas Lurati

Rasen – ohne Rücksicht: Das Phänomen der Temposünder ist ein altbekanntes Problem, doch jeder Exzess schockt aufs Neue. Der aktuellste Fall: Das Raser-Duo Milutin S.* (20, 145 km/h) und Mehmet B.* (22, 156 km/h). Sie wurden am Wochenende in Suhr AG geblitzt. BLICK stellte den Schweizer mit serbischen Wurzeln und den Türken zur Rede. Sie relativierten ihr Vergehen, halten sich eigentlich für harmlos. 

Der Psychologe Urs Gerhard (69) weiss, wie Raser ticken. Der Basler ist seit 30 Jahren als Verkehrsgutachter tätig – an der Universität Basel ist er zudem Privatdozent für Verkehrspsychologie.

BLICK: Urs Gerhard, wie sieht ein klassischer Raser auf Schweizer Strassen aus?

Urs Gerhard: Männlich, jung, mit Migrationshintergrund und aus eher unterer sozialer Schicht. Der Türke Mehmet B. und der serbisch-stämmige Schweizer Milutin S. sind also typische Raser. 80 Prozent der Fahrausweis-Annullierungen betreffen solche Personen. Bis auf ganz, ganz wenige Ausnahmen sind sie männlich.

Woher kommt dieses Profil?

Sie wuchsen zwar in der Schweiz auf, hatten aber nicht die gleichen Startbedingungen wie Schweizer ohne Migrationshintergrund. Denn sie erhalten oftmals keine Unterstützung von den Eltern, weil diese die Schulbildung ihrer Söhne nicht wichtig erachten. Daraus resultiert, dass die jungen Migranten eine lausige Ausbildung haben – und oft keine Lehrstelle erhalten.

Und das ist für so einen jungen Mann Grund, Gas zu geben?

Ja, denn er will sich trotzdem beweisen, will «der Siech» sein. Als Ventil bliebe noch der Sport. Doch im Fussballverein kann er sich nicht eingliedern, weil er meist Autoritäten nicht anerkennt. Drückt man ihm ein Buch in die Hand, kann er nichts damit anfangen. Was bleibt noch übrig?

Das Auto.

Richtig. Die letzte Möglichkeit, um anzugeben.

Wieso sind es Männer?

Das ist wohl evolutionsbedingt. Bei Säugetieren muss sich das Männchen beweisen. Ein ständiges Kräftemessen mit anderen Männchen. Man sieht das bei Löwen, Bären, Wölfen, aber auch den pflanzenfressenden Gämsen und Steinböcken.

Der moderne Mensch ist doch kein Tier.

Er hat zwar keine Hörner, aber immerhin Muskeln. Manche messen sich mit Muskelkraft. Hat man keine Hörner oder eben die Stärke nicht in den Muskeln, holt man sie aus dem Auto raus.

Und wieso sind die meisten jung?

Im Alter von 18 bis 25 sind bei den Männern die Testosteronwerte erhöht. Das begünstigt die Kampfbereitschaft, das Sich-Messen – und eben leider auch die Raserei. Rasen ist Imponiergehabe, eine Mutprobe. Mit ihren übermotorisierten Boliden will man Grenzen ausreizen und geht auch darüber hinaus. Im Tierreich riskieren übermütige junge Männchen ihr Leben. Unter Menschen gilt es, dies zu verhindern.

Wieso kann man den anderen nicht einfach vorbeilassen, wenn er von hinten herandüst?

Bei diesen jungen Rasern wird in so einer Situation das Rivalitätsdenken aktiviert. Wie bei zwei Tieren, die miteinander kämpfen. Die Hörner sind in diesem Fall das Gaspedal.

Was für Autos fahren Raser?

Sicher keine Opel oder Smart, sondern einen aufgemotzten BMW, einen getunten Golf oder einen Audi. Mehmet und Milutin entsprechen also auch hier dem Bild des klassischen Rasers: Der eine fährt BMW, der andere Audi.

Was kann man gegen Raser unternehmen?

Ich frage mich, ob man so jungen Leuten so hochmotorisierte Autos aushändigen darf. Ich erstellte kürzlich ein Gutachten für einen Verkehrsdelinquenten, der früher raste. Als Massnahme durfte er nur noch Fahrzeuge fahren, die auf 45 km/h beschränkt sind. Dank dessen stellte er sein Denken um.

Wie beurteilen Sie, was Milutin und Mehmet zu BLICK sagten?

Milutin sagt, er sei bedrängt worden. Er fühlte sich eventuell tatsächlich bedrängt, das ist subjektiv. Aber schiebt auch klassisch Verantwortung auf andere ab. Ich kenne das. Dann sagt er auch, dass Mehmet in ihn reingefahren wäre, hätte er noch vor dem Blitzer gebremst. Eine absurde Schutzbehauptung.

Und Mehmets Aussagen?

Er verharmlost das Ganze. Und zeigt sich uneinsichtig. Auch das ist Standard bei Rasern. Er sagt, er habe genügend Abstand auf Milutin gehabt. «Sicher nicht weniger als drei bis fünf Meter.» Als ich das las, konnte ich es kaum glauben. Drei bis fünf Meter Abstand bei diesem horrenden Tempo ist natürlich absolut lächerlich! Wenn der Vordere bremst, hat der Hintere keine Chance.

Gibt es eine Faustregel?

Ja, der halbe Tacho in km/h entspricht dem Abstand in Metern. Bei 100 km/h muss man mindestens 50 Meter zum vorderen Auto haben. Bei Mehmet, der mit 156 km/h geblitzt wurde, wären es mindestens 78 Meter. Man beachte aber, dass bei so hohem Tempo, das ja bei uns in der Schweiz gar nicht erlaubt ist, noch mehr Abstand braucht. Denn der Bremsweg verläuft nicht linear zur Geschwindigkeit, sondern im Quadrat.

Mehmet hat kaum Ahnung von Fahrphysik.

Korrekt. Damit ist er aber nicht allein. Viele Junglenker haben keine Ahnung von Anhalteweg und Bremsweg. Überdies überschätzen sie sich oft masslos. Sie denken, sie haben eine kürzere Reaktionszeit – und glauben, dass sich ein guter Fahrer über seine kurze Reaktionszeit definiert, nicht über sicheres Fahren und Einhalten des Sicherheitsabstands.

Mehmet und Milutin halten sich für harmlos. Was sagen Sie?

Da täuschen sich die zwei natürlich gewaltig. Sie sind extrem gefährlich. Mit ihrer Raserei gefährdeten sie sich selbst, den anderen sowie weitere, sich korrekt verhaltende Verkehrsteilnehmer.

 Kaufen Sie Mehmet seine Entschuldigung ab?

Leider sind Bekenntnisse von Rasern oft nur dahergeredet, nicht wirklich innere Überzeugungen. 

Haben die zwei wohl das erste Mal zu fest aufs Gas gedrückt?

Ich denke nicht. Vermutlich sind sie notorische Raser. Aus Erfahrung weiss ich, dass nur die wenigsten Raser einmalige Ausrutscher begehen. 

* Namen bekannt

Aufnahmen zeigen die Verhaftung von Mehmet B. (22)
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Raser-Fahrt in Suhr AG:Aufnahmen zeigen die Verhaftung von Mehmet B. (22)

 

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