Therapeutin Heike Melzer ist alarmiert
«Porno- und Sexsucht breiten sich aus»

Das Smartphone hat eine neue sexuelle Revolution in Gang gesetzt. Die Ärztin Heike Melzer über die Auswirkungen von Porno und Co. auf unsere Partnerschaften.
Publiziert: 16.09.2018 um 14:51 Uhr
|
Aktualisiert: 19.09.2018 um 14:38 Uhr
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Sexualtherapeutin Heike Melzer: «Die Liebe kämpft um ihre Existenz.»
Foto: Annette Hauschild, Ostkreuz
Aline Wüst

Frau Melzer, Sie behaupten, dass Sextoys, Dating-Plattformen und Pornografie unsere Beziehungen enorm verändern. Wie kommen Sie darauf?
Heike Melzer: Die Liebe hat es eh schon schwer mit den Trieben. Liebe braucht Nähe. Erotik braucht Abstand. Pornos, Sextoys, unverbindliche Sexangebote buhlen nun mit dem Sex in Beziehungen.

Wo orten Sie das Problem?
Das alles sind Superreize, die unsere Rezeptoren eichen, sodass wir irgendwann auf die natürlichen Reize eines Partners gar nicht mehr ansprechen.

Das bedeutet?
Sonntagabend, halb Deutschland schaut den «Tatort». Nachher sagt der Mann: «Ich gehe Mails checken.» Die Frau: «Schatz, ich geh ins Bett.» Der Mann switcht von den E-Mails zu den Pornos. Die Frau liest ihren Erotikroman und holt das Sextoy raus.

Was folgern Sie aus diesem Sonntagabend?
Sexualität besteht aus drei Dimensionen: Fortpflanzung, Liebe und Triebe. Die Fortpflanzung hat sich in den 68ern dank Antibabypille und straffreier Abtreibung aus der Sexua­lität verabschiedet. Jetzt verabschieden sich die Triebe aus der Partnerschaft. Das Internet hat sie von der Leine genommen und eine sexuelle Revolution in Gang gesetzt, die viel tiefgreifender ist als die letzte. Liebe kämpft um ihre Existenz.

Woran leiden Ihre Patienten?
Ich sehe junge Männer mit Potenzstörungen und Viagra in der Hand, Menschen, die beim Sex mit Partner keinen Orgasmus mehr bekommen, und eine rasante Zunahme von Lustlosigkeit, keiner generellen, sondern einer partnerbezogenen – mit Pornos und Sextoys läufts prima. Dann die vielen Unberührten, durchaus attraktive Leute. Die haben theoretisch alles schon gesehen. Aber haben es eben noch nie getan. Nun wollen sie Kinder und wissen nicht, wie man echten Sex hat. Oder diejenigen, die sich durch die Betten tindern und den Ausschalter nicht mehr finden. Einer sagte mir einmal: «Wenn der Schlüpfer fällt, ist der Reiz weg.» Porno- und Sexsucht sind Erkrankungen, die sich pandemisch ausbreiten.

Gab es das nicht schon immer?
Ja, aber die Anzahl der betroffenen Menschen hat massiv zugenommen, und die Vorlieben verschieben sich. Was früher Hardcore war, reizt kaum noch. Das Internet verändert unsere sexuellen Skripte, unser Wollen und Können.

Sie vergleichen in Ihrem Buch Sex mit Ernährung.
Sexualität und Ernährung sind wichtig für unser individuelles und das Überleben der Gene. Früher war beides ständig Mangelware. Wir mussten essen, um den harten Winter zu überstehen, Frauen mussten ihre Eizellen schützen, weil sie mit einer Schwangerschaft hohe Risiken eingingen. Essen und Sex lösen im Belohnungssystem des Gehirns eine hohe Dosis des Glückshormons Dopamin aus. Im Übermass genossen, kommt es zu Verhaltenssüchten.

Was macht das mit uns?
Bei der Ernährung kennen wir Menschen die Auswirkungen. Weltweit gibt es 240 Millionen Betroffene mit Diabetes vom Typ 2 beispielsweise. Diese Erkrankung steigt jetzt gerade in Schwellenländern an. Die Menschen kommen aus einem Mangel, haben nun ausreichend zu essen und futtern so lange, bis sie krank werden.

Bei uns im Westen ist das anders.
Ja, weil wir mittlerweile wissen, dass es uns krank macht. Wer es nicht weiss, der entscheidet sich bei der Wahl zwischen Apfel und Cheeseburger immer für den Superreiz – für das Essen mit Geschmacksverstärkern, den Junkfood. Genauso ist es in der Sexualität. Wir haben die Datingportale, Sextoys, all die Apps und die Pornografie, die überall rauf- und runterläuft. Das ist Junkfood. Das sind Superstimuli.

Wir ziehen uns alles rein und werden krank?
Verstehen Sie mich nicht falsch. Es ist super, dass wir das haben. Aber wir sollten es als Genussmittel verstehen. Wie eine Praline.

Was heisst das für uns als Gesellschaft?
Wir haben enorme sexuelle Freiheiten. Zehn Jahre nach Einführung des Smartphones zeigen sich nun aber die Kollateralschäden. Deswegen ist diese sexuelle Revolution nicht ganz so cool wie die letzte. Viele merken das. Viele sind in den Graubereichen unterwegs, überlegen sich wenig und lassen sich hedonistisch von archaischen Trieben steuern. Grenzen von Beziehungen weichen auf, wir sind uns selbst treuer als dem Partner.

Persönlich

Heike Melzer ist Neuro­login und Psychotherapeutin und führt eine Praxis für Paar- und Sexualtherapie in München (D). Sie hat soeben ein Buch über die Auswirkungen der Technik auf unser Sexualleben ver­öffentlicht.

«Scharfstellung – Die neue sexuelle Revolution», Klett-Cotta, 20 Franken.

Heike Melzer ist Neuro­login und Psychotherapeutin und führt eine Praxis für Paar- und Sexualtherapie in München (D). Sie hat soeben ein Buch über die Auswirkungen der Technik auf unser Sexualleben ver­öffentlicht.

«Scharfstellung – Die neue sexuelle Revolution», Klett-Cotta, 20 Franken.

Worauf sollen wir fokussieren?
Wenn Sie im Kino sitzen und die Hand neben seine legen und er den kleinen Finger nicht wegzieht, ist das doch viel cooler als der 3270. Orgasmus aus der Konserve. Da kommt nämlich die Bedeutung dazu und die Bindung. Wir haben ja nicht nur diesen Wunsch nach Abenteuer, sondern auch den Wunsch nach Bindung. Lebensqualität hängt massgeblich mit Bindungsqualität zusammen. Genau das wird in Zukunft bei der Partnerwahl entscheidend sein: Habe ich es mit einem Sexaholic zu tun oder mit jemandem, der selektiv mit dem Angebot umgehen kann.

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Hier gibt es Hilfe für Opfer und Täter

Castagna

Beratungs- und Informationsstelle für sexuell ausgebeutete Kinder, Jugendliche und in der Kindheit ausgebeutete Frauen und Männer: castagna-zh.ch

Forio

Beratung und Therapie für Männer mit pädophiler Neigung, die bisher keine Taten begangen haben, und für solche, die straffällig wurden: keinmissbrauch.ch

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