Die alte Platane wirft Schatten auf die Terrasse. Es ist Sonntagmorgen. Noch sind die Steintische nicht besetzt. Noch herrscht Ruhe im malerischen Örtchen Lavertezzo TI. Die Mannschaft von Wirtin Claudia Foiada Foletta zieht sich die Maske übers Gesicht. Bald werden sie kommen. Die Touristen. Bis zu 10'000 Gäste am Tag stürmen zurzeit das Verzascatal. Manche kehren auch in der Osteria Vittoria ein.
«Viele wollen schnell was essen, nur einen Imbiss», erzählt Wirtin Claudia Foiada Foletta, «sie fragen nach Pizza, Pommes und Bratwurst.» Niemand achte auf das alte Gebäude, auf die schöne Steinterrasse. Niemand habe in diesen Tagen die Musse, die traditionelle Küche zu geniessen, sagt Foiada Foletta. Sie ist traurig, aber betont: «Wir sind froh, dass Touristen kommen. Keine Frage. Nur das Verzascatal darf kein Tessiner Rimini werden. Wir müssen weiter auf Qualitätstourismus setzen.»
Securitas-Mitarbeiter haben sich postiert. Drei Mann regeln den Verkehr durch den Ort. Zwei weitere halten die Bus-Wendeplätze frei. «Denn», so Saverio Foletta (57), Sekretär der Fondazione Verzasca, «bei der Suche nach einem Parkplatz wird wirklich wild geparkt.»
«Da wird gehupt, Musik aufgedreht und gepöbelt»
Gegen zehn Uhr rollt die Blechlawine langsam an. 4000 Fahrzeuge wurden am Samstag vor einer Woche gezählt. Auch an diesem Sonntag heisst es Stop-and-go. Autos mit Berner, Zürcher, Basler, Luzerner Kennzeichen stehen in der Kolonne. Vereinzelt tauchen Italiener, Deutsche oder Holländer auf. «Wegen des grossen Andrangs in der Hochsaison haben wir die Zahl der Postbusse von zwei auf sieben pro Strecke erhöht», sagt Foletta. Ihm fällt auf: «In diesem Jahre werden wir vor allem von Deutschschweizern besucht.»
Ein Albtraum sei dieser Verkehr, sagt Heike Salwik (59). Die Berlinerin wohnt in Lavertezzo, direkt an der Talstrasse. «Im Sommer kannst du kein Fenster öffnen. Da wird gehupt, Musik aufgedreht, auch lauthals gepöbelt», so die Wahltessinerin, «wir leiden alle hier.» Zudem stellten sich die Touristen frech auf fremde Parkplätze. «Dass da ‹Privat› steht, interessiert sie nicht.»
«In der Schweiz gibt es kein Corona»
Das Hauptziel der Touristen ist die Verzasca. Wegen des glasklaren, smaragdfarbenen Wassers wurde der Fluss 2017 von einem italienischen Videoproduzenten zu den Tessiner Malediven gekürt. Seither ist der Ansturm noch grösser. Die glatten Steine am Bach sind im Nu besetzt. Die Naturschönheit verschwindet unter Menschentrauben im Badeanzug.
Elf Freunde, alle aus Varese (I), hocken auf einem der Felsen. «Wir haben den Badeplatz auf Facebook entdeckt», erzählt Davide Rinaudo (23), «es ist wunderschön hier, vielleicht ein wenig voll.» Angst vor dem Coronavirus hätten sie nicht. «In der Schweiz gibt es kein Covid-19, hier trägt ja niemand eine Maske.»
Mit wachsamen Augen verfolgen Igor Mazza (63) und Giorgio Manni (59) das Treiben. Sie gehören zu den Rettungstauchern des Tals. «Die Verzasca ist gefährlich. Wir müssen die Gäste darauf hinweisen», sagt Manni. Der technische Kommissar der Sub Val Verzasca hat die Zahl seiner Männer von zwei auf vier verdoppelt.
Touristen marschieren in Küche von Anwohnern
Kein Schild oder Zaun schreckt die Menschen ab, um in die Tessiner Malediven zu gelangen. «Die Leute steigen durch unseren Garten, weil sie schnurgerade ans Flussufer wollen», sagt Franco Brughelli (74). Der Tessiner und seine Frau Maria Teresa (64) führten 35 Jahre lang den Kiosk an der «Römerbrücke». Früher seien die Touristen freundlicher und spendabler gewesen, sagt Maria Teresa. Ihr Rustico im historischen Dorfkern gehört für so manchen Besucher offenbar zur Sehenswürdigkeit. «Ein Tourist stand schon in unserer Küche, weil es so gut gerochen hat», empört sich Franco Brughelli.
Der Andrang dauert anderthalb Monate. «Dann kommen wieder jene, die unser Tal wirklich lieben und Zeit mitbringen», sagt Wirtin Claudia von der Osteria Vittoria. Ehemann Saverio appelliert unterdessen an die Schweizer: «Kommt ausserhalb der Hochsaison. Dann ist das Verzascatal wieder wirklich schön.»