Sie wollen mehr Lohn, Respekt und Anerkennung
Aufstand der Kindergärtnerinnen

Kindergärtnerinnen vermissen die Anerkennung für ihre Arbeit. In mehreren Kantonen kämpfen sie politisch und juristisch um bessere Anstellungsbedingungen.
Publiziert: 28.01.2018 um 15:53 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2018 um 17:55 Uhr
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Brigitte Fleuti mit ihren Schützlingen im Kindergarten in Zürich.
Foto: Thomas Meier
Thomas Schlittler

Brigitte Fleuti (55) steigt auf einen Stuhl, 18 Kinder tun es ihr gleich. Begeistert singen sie, was Goldmarie am Morgen so treibt: «Goldmarie macht ihr Bett.» «Goldmarie zieht sich an.» «Goldmarie putzt sich die Zähne.»

Bevor gespielt werden darf, geht Frau Fleuti mit den Kindern die Regeln durch: Zuhören. Aufstrecken. Nicht boxen. Und nach dem Spielen: Aufräumen. Die Kleinen wissen es bereits auswendig und verteilen sich an die Minitische.

Frau Fleuti schaut alles an, fragt, lobt

An einem Platz müssen sie mit der Spaghettizange Nüsse transportieren. Am anderen Knöpfe nach Farben sortieren. Am nächsten kritzeln ein Bub und ein Mädchen, bereits im zweiten Kindergartenjahr, fleissig die Namen ihrer Mitschüler auf eine Tafel.
Sie alle lernen, ohne dass es ­ihnen bewusst wäre. Und wenn sie eine Aufgabe erledigt haben, rufen sie: «Sie, Frau Fleuti. Sie, Frau Fleuti, lueged Sie!»

Frau Fleuti schaut alles geduldig an, fragt nach, lobt. Sie liebt ihren Job, aber sie sagt auch: «Wir bekommen für unsere Arbeit nicht die Anerkennung, die wir verdienen.»

Als Präsidentin des Verbandes Kindergarten Zürich (VKZ) will sie dafür sorgen, dass sich das ändert. Ein wichtiger Punkt ist der Lohn. Die Kindergärtnerinnen im Kanton verdienen deutlich weniger als Primarlehrerinnen. Dennoch haben die Bundesrichter im vergangenen Herbst eine Beschwerde der Zürcher Kindergärtnerinnen wegen Lohndiskriminierung knapp abgewiesen, mit zwei zu drei Stimmen.

Kampflos aufgeben ist keine Option

Aufgeben kommt für Fleuti und ihre Berufskolleginnnen nicht infrage. Sie kämpfen auf politischer Ebene weiter. Vergangene Woche wurden im Kantonsrat gleich drei Vorstösse eingereicht, um die Arbeitsbedingungen der Zürcher Kindergärtnerinnen zu verbessern.

Eine Motion fordert den Regierungsrat auf, die gesetzlichen Grundlagen zu schaffen, damit Kindergartenlehrpersonen mit einem Vollpensum von 100 Prozent angestellt werden können. Heute ist das nicht möglich, weshalb Kindergärtnerinnen im Kanton Zürich deutlich weniger verdienen als ihre Kollegen auf der Primarstufe.

Doch es geht nicht nur um mehr Lohn. Eine parlamentarische Initiative verlangt, dass die Kindergärtnerinnen im ersten Semester jeden Morgen durch eine weitere Person unterstützt werden. Der Grund: Wegen der Umsetzung von Harmos treten die Kinder immer früher in den Kindergarten ein. Im August 2020 werden Knirpse in den Kindergarten eintreten, die erst wenige Tage zuvor vierjährig geworden sind. «Dadurch steigt für uns der Betreuungsaufwand», sagt Fleuti.

Der dritte Vorstoss will erreichen, dass die durchschnittliche Klassengrösse gesenkt wird.

Unbezahlte Arbeit in den Pausen

Doch nicht nur in Zürich proben die Kindergärtnerinnen den Aufstand. Auch in anderen Kantonen sind sie verstimmt. In St. Gallen hat der Lehrerinnen- und Lehrerverband im Dezember Klage eingereicht, weil für die Pausenaufsicht keine Entschädigung gezahlt wird: «Aufgrund der fehlenden Regelung werden die Kindergartenlehrpersonen gezwungen, unbezahlte Arbeit zu leisten», schreibt der Verband.

Im Kanton Graubünden zogen die Kindergärtnerinnen bereits im Herbst vor Gericht. Sie verlangen ebenfalls mehr Lohn. Die Bündner Kindergartenlehrerinnen verdienen mit 60’000 Franken pro Jahr im schweizweiten Vergleich mit Abstand am wenigsten. Das sei angesichts eines abgeschlossenen Bachelorstudiums an der Pädagogischen Hochschule nicht angemessen, beschweren sie sich.

Die Bündnerinnen sehen das Gleichstellungsgesetz verletzt. Ihre Argumentation: Kindergärtnerinnen werden schlechter entlöhnt als andere Berufsgruppen, weil vorwiegend Frauen in diesem Bereich arbeiten.

Schaffhausen ist einen Schritt weiter

Schon einen Schritt weiter sind ihre Kolleginnen im Kanton Schaffhausen. Ende 2016 siegten sie mit ihrer Klage wegen Lohndiskriminierung vor dem Obergericht. Die Kantonsregierung hat das Urteil aber nicht akzeptiert und ans Bundesgericht weitergezogen. Anders reagierten die Verantwortlichen im Kanton Aargau. Dort lenkte die Regierung 2015 nach einem Rüffel des Verwaltungsgerichts ein.

Der Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH) unterstützt die Bemühungen der kantonalen Sektionen. Auf Bundesebene sind die Mittel des Verbandes aber beschränkt. «Wir können keine nationalen Forderungen stellen, weil die Anstellungsbedingungen Sache der Kantone sind. Und in jedem Kanton ist die Situation anders», sagt Ruth Fritschi (51), die im LCH für den Bereich Kindergarten verantwortlich ist.

Fritschi und der LCH haben den Handlungsbedarf erkannt und wollen mit einer Anfang 2018 eingesetzten Arbeitsgruppe Strategien für die kommenden Monate koordinieren.

Ein wichtiges Ziel ist es, die öffentliche Wahrnehmung des Kindergartens zu ändern: «Wir leiden immer noch unter der längst veralteten Vorstellung, wonach Kindergärtnerinnen einfach ein bisschen Kinder hüten.»

Nutzen der Frühförderung ist wissenschaftlich bewiesen

Dabei sei wissenschaftlich längst bewiesen, wie wichtig die Frühförderung von Kindern sei. «Was in den ersten Jahren versäumt wird, ist kaum mehr aufzuholen», so Fritschi. Deshalb bräuchten Kindergärtnerinnen auch die gleiche Ausbildung wie Primarlehrpersonen. In den allermeisten Kantonen ist das längst der Fall.

Zurück im Kindergarten von Brigitte Fleuti, der obersten Zürcher Kindergärtnerin: «Die Anforderungen an unseren Beruf haben in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen.» Das liege vor allem an ­Elterngesprächen, dem früheren Einschulungstermin sowie an der Integration von Einwandererkindern und Kindern mit einer Beeinträchtigung.

«Trotz hundert Prozent Aufwand gilt Kindergärtnerin nicht als Vollzeitjob. Das ist einfach nicht richtig.» Fleuti hofft, dass sich das bald ändert. Bis es so weit ist, muss sie sich mit der Anerkennung ihrer Kleinen begnügen. Dass die Kinder die Arbeit ihrer Frau Fleuti schätzen, ist unübersehbar.

Gut, dass sie kämpfen

Kommentar von stv. Chefredaktor Reza Rafi

Sie heissen Luca, Finn oder Laura. Manche können bereits die Schuhe binden, andere machen noch in die Windeln. Einige haben die Sozialkompetenz eines Neugeborenen, andere sind bereits kleine Persönlichkeiten mit erstem Verantwortungssinn. Die Rede ist von
Kindergartenkindern.

Viele der Kleinen haben eines gemeinsam: Eltern, die dreinreden. Ambitionierte Erziehungsberechtigte, die in ihrem Nachwuchs mindestens den nächsten Steve Jobs oder den kommenden Roger Federer sehen, aber auch Eltern in islamischen oder evangelikalen Parallelwelten. Und leider gibt es auch Eltern, die das Schicksal der eigenen Brut einen Dreck kümmert.

Damit hätten wir grob die Ausgangslage für die heutigen Kindergärtnerinnen und – leider sehr selten – Kindergärtner umrissen.
Noch nicht erwähnt sind damit die gestiegenen pädagogischen Anforderungen. Mit Fingerfarben und Klötzchen beigen ist es heute längst nicht mehr getan. Angesichts des globalen Standortwettbewerbs drängt der Bildungsauftrag immer tiefer in die Vorstufe vor. Den Kindergärtnerinnen wird gewissermassen das junge Sozialkapital der Leistungsgesellschaft in die Hände gelegt.

Es ist deshalb nur richtig, dass sich dieser Berufsstand für mehr Anerkennung und höhere Löhne einsetzt. Dass der Kampf von der Öffentlichkeit wahrgenommen wird, ist bereits ein
erster, wichtiger Schritt.

Stv. Chefredaktor SonntagsBlick: Reza Rafi
Stv. Chefredaktor SonntagsBlick: Reza Rafi
RDB

Kommentar von stv. Chefredaktor Reza Rafi

Sie heissen Luca, Finn oder Laura. Manche können bereits die Schuhe binden, andere machen noch in die Windeln. Einige haben die Sozialkompetenz eines Neugeborenen, andere sind bereits kleine Persönlichkeiten mit erstem Verantwortungssinn. Die Rede ist von
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Viele der Kleinen haben eines gemeinsam: Eltern, die dreinreden. Ambitionierte Erziehungsberechtigte, die in ihrem Nachwuchs mindestens den nächsten Steve Jobs oder den kommenden Roger Federer sehen, aber auch Eltern in islamischen oder evangelikalen Parallelwelten. Und leider gibt es auch Eltern, die das Schicksal der eigenen Brut einen Dreck kümmert.

Damit hätten wir grob die Ausgangslage für die heutigen Kindergärtnerinnen und – leider sehr selten – Kindergärtner umrissen.
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