In Schweizer Haushalten grassieren Übergriffe. Sie spielen sich meist im Verborgenen ab, betreffen alle sozialen Schichten und Altersgruppen: Mehr als 17'000 Fälle von häuslicher Gewalt registrierte die Polizei allein im Jahr 2017. Die Dunkelziffer ist um ein Vielfaches höher.
Damit Opfer – meist Frauen und Kinder – besser geschützt werden, beteiligt sich die Schweiz seit dem 1. April an einem verbindlichen Übereinkommen des Europarats, der sogenannten Istanbul-Konvention. Diese verpflichtet Bund und Kantone, genügend Schutzplätze für Gewaltopfer anzubieten.
Die Schweiz hinkt den Vorgaben hinterher
Unveröffentlichte Zahlen der Dachorganisation der Schweizer Frauenhäuser (DAO) zeigen: Wegen Platz- und Geldmangel mussten Frauenhäuser 2017 jedes vierte Gewaltopfer abweisen. 612 Hilfe suchende Frauen und ebenso viele Kinder fanden bei der von ihnen angefragten Institution keinen Platz.
Zwar konnte ein Teil der Frauen an ausserkantonale Frauenhäuser weitervermittelt werden. Viele aber landeten in einer Pension oder mussten eine Lösung im privaten Rahmen finden.
So wie Laura S.*: Ihr Ehemann verprügelte sie. Über Jahre hinweg. Besonders hart waren die Schläge, wenn er getrunken hatte. Erst nach langem Zögern konnte sie sich überwinden, in ein Frauenhaus zu flüchten. Doch sämtliche Zimmer im Kanton waren belegt. Sie musste mit ihren Kindern eine Woche lang in einer Pension übernachten – in ständiger Angst, dass ihr Mann sie finden könnte, und ohne angemessene Betreuung für sie und ihre Kinder.
Eine sichere Unterkunft pro 10'000 Einwohner
Ein unhaltbarer Zustand, findet Susan Peter, Präsidentin der Dachorganisation der Schweizer Frauenhäuser. «Die Frauenhäuser sind chronisch unterfinanziert», sagt sie. Viele seien noch immer auf Spendengelder angewiesen. «Es braucht dringend mehr Plätze und mehr Personal.» Nur so könne die Schweiz den neuen, internationalen Verpflichtungen nachkommen.
Wie viele zusätzliche Plätze nötig sind, ist umstritten. Die Europaratskonvention schreibt keine konkrete Zahl fest. Im Staatenvertrag heisst es: «Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen Massnahmen, um die Einrichtung von geeigneten, leicht zugänglichen Schutzunterkünften in ausreichender Zahl zu ermöglichen.»
Die Konvention verweist dabei auf Empfehlungen des Europarats. Demnach braucht es pro 10'000 Einwohner eine sichere Familienunterkunft in einem Frauenhaus. Für die Schweiz bedeutet das: Es fehlen mehrere Hundert Plätze.
Es fehlt auch an ergänzenden Hilfsangeboten
Die Umsetzung der Istanbul-Konvention in der Schweiz wird vom Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG) koordiniert. Auch dort räumt man Handlungsbedarf ein. Sprecherin Sabine Baumgartner sagt: «Es stehen tendenziell zu knappe Ressourcen zur Verfügung.» Die Leistungen der Kantone für den Betrieb der Frauenhäuser müssten deshalb gesichert und harmonisiert werden – «gerade in Zeiten eines erhöhten Spardrucks».
Die Kantone wiederum wiegeln ab. Laut dem Präsidenten der Sozialhilfedirektorenkonferenz, Martin Klöti (FDP/SG), stehen «grundsätzlich» genügend Schutzpätze zur Verfügung. Ressourcenmangel sieht er jedoch bei ergänzenden Hilfsangeboten. Bei betreuten Wohnungen etwa, für die Zeit nach dem Frauenhaus, oder bei Opferberatungsstellen, die dafür sorgen, dass Betroffene erst gar nicht im Frauenhaus landen.
In allen Kantonen gibt es Beratungsstellen, die Opfer von häuslicher Gewalt unterstützten. (opferhilfe-schweiz.ch)
In den 18 Frauenhäusern der Schweiz erhalten gewaltbetroffene und bedrohte Frauen sowie ihre Kinder Schutz und Unterstützung. (frauenhaus-schweiz.ch)
Für gewaltbetroffene Männer bietet der Verein Zwüschehalt Beratung und Schutz an. (zwueschehalt.ch)
In allen Kantonen gibt es Beratungsstellen, die Opfer von häuslicher Gewalt unterstützten. (opferhilfe-schweiz.ch)
In den 18 Frauenhäusern der Schweiz erhalten gewaltbetroffene und bedrohte Frauen sowie ihre Kinder Schutz und Unterstützung. (frauenhaus-schweiz.ch)
Für gewaltbetroffene Männer bietet der Verein Zwüschehalt Beratung und Schutz an. (zwueschehalt.ch)
Die Aufenthaltsdauer hat zugenommen
Tatsächlich ist die Problematik auch in diesem sogenannten vor- und nachgelagerten Bereich akut. Weil zu wenige Angebote existieren, müssen die Frauen immer länger in Frauenhäusern bleiben. Die Aufenthaltsdauer hat massiv zugenommen, auch das zeigen die Zahlen der Dachorganisation. Blieben Opfer häuslicher Gewalt im Jahr 2010 im Schnitt noch 27 Tage im Frauenhaus, waren es 2017 bereits 37 Tage – so lange wie noch nie.
Dazu kommt: Neben der wachsenden Nachfrage werden die Fälle der betroffenen Frauen komplexer. Selbständige Frauen würden sich laut DAO-Präsidentin Peter vermehrt an ambulante Beratungsstellen wenden. Deswegen sammelten sich vorwiegend schwierige Fälle in den Häusern. «Neben der Gewalt haben die Frauen heute oft auch noch finanzielle und psychische Probleme. Zudem beobachten wir immer mehr verhaltensauffällige Kinder», sagt sie. Das führe dazu, dass die Frauen eine intensivere Betreuung bräuchten und länger blieben als früher.
Zeit bis 2020
Durch die Ratifizierung der Istanbul-Konvention steigt nun der Druck auf die Schweiz. Bis im Herbst will der Bund zusammen mit den Kantonen eine Roadmap erarbeiten. Geplant sind gesetzliche Massnahmen zum Schutz von Gewaltopfern. Bis im November soll auch ein konkretes Umsetzungskonzept zur Einhaltung der Istanbul-Konvention stehen.
Denn allzu lange kann sich die Schweiz nicht mehr vor den internationalen Regeln drücken. Spätestens 2020 muss der Bund dem Europarat Bericht über den aktuellen Stand erstatten – auch zur Frage, ob es genügend Schutzplätze gibt.
*Name von der Redaktion geändert