Es geschah gestern während des traditionellen Umritts um den Böögg auf dem Zürcher Sechseläutenplatz: Ein Zünfter stürzt auf der sandigen Unterlage mit seinem Pferd und wird unter dem Tier begraben. Mensch und Tier müssen kurz von Ärzten behandelt werden. Während der Reiter keine ernsthafteren Verletzungen davontrug, stirbt das Tier gemäss «Tele Züri» nach kurzer Zeit an einem plötzlichen Herztod.
Die dramatischen Szenen sorgten bei den Zuschauern für Entsetzen. Bereits vor dem Zwischenfall sollen Pferde mit den Verhältnissen am Anlass Probleme gehabt haben. «Immer wieder flogen brennende Teile vom Böögg herunter auf die im Kreis reitenden Pferde. Möglicherweise wurde das Tier dadurch irritiert», sagt eine Blick.ch-Leserreporterin.
«Das Ganze ist weder vernünftig noch tiergerecht»
Der Unfall lässt eine alte Kritik neu aufflammen. So bezeichnet der Zürcher Tierschutzbund heute in einer Mitteilung das Frühlingsfest als reine Tierquälerei. «Das Ganze ist weder vernünftig noch tiergerecht», sagt York Ditfurth, Präsident des Tierschutzbundes, gegenüber der Nachrichtenagentur sda.
Die Pferde würden wegen der Böller im Böögg in Panik geraten. Die Tiere könnten aber nicht flüchten, sondern würden von ihren Reitern mit harter Hand auf Kurs gehalten.
Viele Zünfter greifen auf Medikamente für Tiere zurück
Tatsächlich haben viele Pferde Mühe mit dem ungewohnten Menschenauflauf, dem Lärm und der Hitze. Andreas Weidmann, Sprecher der Zürcher Zentralkomitees der Zünfte, bestätigt auf Anfrage von Blick.ch, dass die Reiter ihre Tiere deshalb vor dem Anlass oft mit Medikamenten behandeln würden. «Einige Zünfter verabreichen ihren Tieren Beruhigungsmittel, damit diese weniger nervös sind.»
Ein unter Reitern beliebtes Beruhigungsmittel ist Sedalin. In den vergangenen Jahren kam das Medikament in Pastenform auch am Sechseläuten zum Einsatz. «Das Pferd ist ein Fluchttier. Dank Sedalin gewöhnt es sich an das Getümmel und braucht weniger Nerven», sagte der Hufschmied und langjährige Zunftreiter Walter Wolf in einem Bericht des «Tages-Anzeigers».
Pferde sollten vor extremer Belastung geschützt werden
Der plötzliche Herztod des Pferdes gestern wirft in diesem Zusammenhang neue Fragen auf. Eine Wirkung von Sedalin ist nämlich auch die Schwächung des Kreislaufs der Tiere. Simone Ringer, Anästhesieärztin am Zürcher Tierspital, kritisierte deshalb in der Vergangenheit die medikamentöse Beruhigung. «Durch das Sedalin wird der Kreislauf beeinträchtigt, was insbesondere bei älteren oder kranken Tieren zu Komplikationen führen kann.» Nach der Sedation sollte ein Reiter sein Pferd ruhig halten, nicht extremen Temperaturen aussetzen und keine Leistung von ihm verlangen – also das pure Gegenteil von dem, was beim Umritt um den Böögg den Tieren zugemutet wird.
Für Anton Fürst, Professor für Pferdechirurgie am Zürcher Tierspital, kann man diesbezüglich momentan nur Vermutungen anstellen. «Eine Obduktion des Pferdes findet heute Nachmittag statt. Erst dann werden wir mehr über die Todesursache sagen können.» Fürst verteidigt aber den Einsatz von Sedalin am Sechseläuten. «Das Mittel ist sehr verbreitet und kommt auch bei uns am Tierspital oft zum Einsatz.»
Der Verabreichung von Sedalin steht Hansuli Huber kritischer gegenüber. Für den Geschäftsführer vom Schweizer Tierschutz (STS) ist ein Zusammenhang des Beruhigungsmittels mit dem Tod des Zunft-Pferdes durchaus denkbar. «Es ist im Pferdesport verboten und hat gefährliche Nebenwirkungen: Die Tiere könnten dadurch unruhiger werden, was genau das Gegenteil der erwünschten Wirkung ist.» Huber fordert deshalb, dass das Veterinäramt bei den Sechseläuten-Reitern Kontrollen durchführt. Und auch die Zünfter nimmt er in die Pflicht: «Wir wollen von den Zünften wissen, welche Konsequenzen sie aus den Zwischenfällen von gestern ziehen und warum sie systematisch Sedalin einsetzen.»