Die offiziellen Zahlen täuschen über die wahre Lage hinweg: Während monatelang nur noch wenige Asylbewerber in der Schweiz registriert wurden, flüchten nach wie vor Menschen von Süd- nach Nordeuropa. Dabei entwickelt sich die Eidgenossenschaft immer mehr zum Transitland – und zur Drehscheibe für Menschenschmuggler.
Dies nimmt auch das Grenzwachtkorps (GWK) wahr. David Marquis von der Eidgenössischen Zollverwaltung: «Wir stellen aktuell im Vergleich zu den Vorjahren eine erhöhte Schleppertätigkeit fest.» Bei ihren Kontrollen bemerken die GWK-Leute zunehmend, dass in der Schweiz «inländische, aber auch ausländische Schleppernetzwerke aktiv sind», so Marquis.
Aktuelle Zahlen stützen diese Beobachtung: Grenzwächter hielten zwischen Januar und August 255 Personen wegen Verdacht auf Schleppertätigkeit fest. Im Jahr zuvor waren es im gleichen Zeitraum 174. Sie stammten aus der Schweiz, Italien oder dem Kosovo und werden vom GWK jeweils bei den kantonalen Staatsanwaltschaften verzeigt.
Auch die vermelden eine Zunahme solcher Verfahren. Betroffen sind die Staatsanwaltschaften der Grenzkantone Tessin und Wallis, aber auch St. Gallen, wie der dortige leitende Staatsanwalt Thomas Hansjakob sagt: «Die Zahl der Verfahren in diesem Bereich nehmen eher zu.»
Der Schleuser wohnte seit Mitte der 90er-Jahre im Waadtland
Für ihre Geschäfte nutzen Schlepper zunehmend die Schweiz als sicheren Rückzugsort und organisieren von hier aus den Transport von Migranten aus Südeuropa in Richtung Norden. Das zeigt ein aktueller Fall aus Bayern. Die Staatsanwaltschaft München führt derzeit ein Verfahren gegen einen zuletzt in der Schweiz wohnhaften Jemeniten (47) durch, wie deren Sprecherin Anne Leiding gegenüber SonntagsBlick bestätigt. Ihm wird gewerbsmässiger Menschenschmuggel in mehreren Fällen vorgeworfen.
Im Juni beantragte das bayerische Innenministerium deshalb seine Auslieferung, im Juli wurde er verhaftet. Zurzeit sitzt der Mann in der Schweiz in Haft – seine Überstellung nach Deutschland steht unmittelbar bevor. Bei einer Verurteilung drohen ihm bis zu zehn Jahre Haft. Der Verdächtige soll aus der Schweiz mehrfach den Transport von Flüchtlingen von Italien nach Deutschland organisiert haben.
In einem Fall griff die deutsche Polizei gleichzeitig sechs Personen auf, die mit Hilfe des Jemeniten nach Deutschland gelangt waren. SonntagsBlick weiss: Der Schleuser wohnte seit Mitte der 90er-Jahre im Waadtland und war nie berufstätig. Gegen seine Auslieferung setzte er sich juristisch zur Wehr – ohne Erfolg.
Seit August stoppte die rumänische Küstenwache auf dem Schwarzen Meer immer wieder Fischerboote aus der Türkei
Mit dem zunehmenden Fahndungsdruck an den EU-Aussengrenzen setzen die Menschenschmuggler auf immer neue Methoden und Routen. Während die italienischen Behörden die Flucht über das Mittelmeer zuletzt mit Hilfe der libyschen Küstenwache erschwerten, fanden Schlepper weiter im Osten ein neues Tor nach Europa: Seit August stoppte die rumänische Küstenwache auf dem Schwarzen Meer immer wieder Fischerboote aus der Türkei. An Bord waren Familien aus Syrien und dem Irak. Möglicherweise wurden auch sie bei ihrer Flucht in Richtung Norden von Schleusern in der Schweiz geleitet.