Vier von zehn Menschen fühlen sich nach dem Lockdown gestresster als voher, einer von zehn gar depressiv. Und das mitten im Sommer! Das hat eine Studie der Universität Basel ergeben. Und dies bekommt Yvik Adler in ihrer Praxis in Solothurn zu spüren. Die Co-Präsidentin der Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen (FSP) redet im Interview mit BLICK über die Folgen der Pandemie.
Eine aktuelle Studie zeigt, dass es derzeit vielen nicht gut geht. Wie bekommen Sie das zu spüren?
Yvik Adler: Wir haben sehr viele Neuanmeldungen von Leuten, die nicht mehr weiterwissen. Das habe ich noch nie erlebt. Normalerweise erhalten wir im Sommer wegen der Ferien deutlich weniger Anfragen.
Müssen Sie Leute wegschicken?
Ja. Und das ist schwierig für mich, weil ich weiss, dass sie sonst keinen Therapieplatz finden. Wir haben in der Schweiz eine Unterversorgung. In ländlichen Gebieten und in der Agglomeration musste man schon vor Corona im Durchschnitt sechs Wochen auf einen Platz warten. Kinder und Jugendliche sogar sieben.
Mit welchen Problemen kommen die Leute jetzt in Ihre Praxis?
Mit Angsterkrankungen, Depressionen und Paarproblemen, die sich verschärft haben. Wegen des Lockdowns gab es mehr Trennungen. Einige Anwälte sagen bereits, dass sie mit einer höheren Scheidungsrate rechnen. Aber Kinder und Jugendliche hat es besonders hart getroffen.
Sie durften nicht in die Schule.
Sehr viele waren auf sich selbst zurückgeworfen. Manche Familien konnten das nicht auffangen, weil die Eltern trotz des Lockdowns arbeiten mussten. Darüber spricht man viel zu wenig. Ich sehe Kinder und Jugendliche, die Verhaltenssüchte entwickelt haben. Sie gamen die ganze Zeit. Auch Essstörungen haben zugenommen. Und ein mir bekannter Bub hat autistische Züge bekommen. Er ist stark auf sich selbst fokussiert, weil er zwei Monate lang isoliert mit seiner alleinerziehenden Mutter verbrachte.
Vielen Menschen geht es schlechter als vor der Pandemie – trotz gelockerter Massnahmen. Das hat die Studie «Swiss Corona Stress Study» der Universität Basel kürzlich ergeben. Über 10'000 Personen nahmen an der Online-Befragung teil. 40 Prozent gaben an, sich gestresster zu fühlen als vor dem Lockdown. Ebenso viele leiden unter Ängsten. Zwölf Prozent weisen nach eigenen Angaben depressive Symptome auf. Vor der Corona-Krise waren es drei Prozent. Als Gründe geben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer Unsicherheit, veränderte Bedingungen bei der Arbeit oder in der Ausbildung, Zukunftsängste und die fehlenden sozialen Kontakte an. Rebecca Wyss
Vielen Menschen geht es schlechter als vor der Pandemie – trotz gelockerter Massnahmen. Das hat die Studie «Swiss Corona Stress Study» der Universität Basel kürzlich ergeben. Über 10'000 Personen nahmen an der Online-Befragung teil. 40 Prozent gaben an, sich gestresster zu fühlen als vor dem Lockdown. Ebenso viele leiden unter Ängsten. Zwölf Prozent weisen nach eigenen Angaben depressive Symptome auf. Vor der Corona-Krise waren es drei Prozent. Als Gründe geben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer Unsicherheit, veränderte Bedingungen bei der Arbeit oder in der Ausbildung, Zukunftsängste und die fehlenden sozialen Kontakte an. Rebecca Wyss
Und was macht es mit Erwachsenen, wenn Veranstaltungen wie Feiern, Konzerte und Open Airs wegfallen?
Solche Veranstaltungen geben Sinn und Freude. Fallen sie weg, fühlt man sich verloren. Oder energielos. Letzteres hat aber auch mit der ständigen Unsicherheit und der Fremdbestimmung zu tun.
Wie meinen Sie das?
Permanent werden neue Massnahmen angeordnet und erlassen. Aus der Forschung weiss man, dass Unsicherheit und Fremdbestimmung depressive Symptome fördern. Man kommt dann in eine Hilflosigkeit rein, manche resignieren. Einige Medienberichte haben die Ängste noch verstärkt. Je mehr ich mein Leben selbst gestalten kann, desto besser ist es für meine psychische Gesundheit.
Manche gehen mit Handschuhen einkaufen, andere ziehen nur ungern eine Maske über. Wie erklären Sie den Widerspruch?
Der Streit der Experten darüber, ob man rigide Massnahmen ergreifen oder durchseuchen soll, spaltet die Gesellschaft. Die Leute schätzen unterschiedlich ein, welches Verhalten nun angemessen ist. Das führt zu mehr Konflikten im Alltag. Das gegenseitige Kontrollieren hat zugenommen.
Die Zukunft bleibt weiter ungewiss. Wie gehen wir am besten damit um?
Aktuell haben wir noch keine zweite Welle. Wir sollten zu einer gewissen Art Normalität zurückfinden. Risiken gehören zum Leben, wir sollten das akzeptieren. Ein Leben, bei dem man aus Angst auf alles verzichtet, ist nicht erfüllend. Eine Perspektive und damit Sinn gibt uns, wenn wir erfüllenden Beschäftigungen nachgehen, Pläne schmieden und nach draussen gehen.