Den Schweizer Gemeinden laufen die Freiwilligen davon. Immer weniger Menschen sind bereit, ein lokales Milizamt zu übernehmen. Das zeigt die neue Studie «Milizarbeit in der Schweiz» unter der Leitung des Politologen Markus Freitag.
Steht das Schweizer Milizwesen vor dem Aus?
Markus Freitag: Es gibt in der Tat einen alarmierenden Rückgang bei der Milizarbeit. Über die Hälfte aller Gemeinden hat Schwierigkeiten, ihre politischen Ämter überhaupt noch zu besetzen. Es herrscht dringender Reformbedarf. Die Frage ist: Wo stehen wir im Spannungsfeld zwischen Ehrenamtlichkeit und Professionalisierung? Das lokale System oszilliert zurzeit zwischen diesen beiden Polen.
Und wird bei der Professionalisierung enden.
Nicht notwendigerweise. Es gibt einen Stamm von Menschen, die altruistisch bewegt sind und sich für das Gemeinwohl engagieren wollen. Diese Menschen müssen angesprochen werden.
Was sagen Sie diesen Leuten? Warum sollen sie den Sprung in die Milizarbeit wagen?
Milizarbeit bietet Gelegenheit zur Umsetzung kreativer Ideen, dient dem Aufbau von Netzwerken und erleichtert das Verständnis von Politik. Das Jahr der Milizarbeit steht im Zeichen einer Sensibilisierung. Es soll aufzeigen, was die Miliztätigen tun. Und dass Milizarbeit Spass macht.
Redet man sich so die Krise nicht einfach schön? Es reicht wohl kaum, den Leuten zu erzählen, dass Milizarbeit lustig ist.
Sensibilisierung allein reicht natürlich nicht. Es müssen Reformen in jeglicher Hinsicht unternommen werden. Aber vergessen Sie nicht: Drei Viertel der Bevölkerung halten das Milizsystem für eine gute Sache ...
... und sind froh, wenn sich die anderen darum kümmern.
Es ist dasselbe Phänomen wie in anderen Bereichen. Alle schätzen zum Beispiel die direkte Demokratie. Niemand will sie abschaffen. Aber längst nicht alle gehen abstimmen.
Mehr als 4000 Freiwillige am Eidgenössischen Turnfest in Aarau – Amtszwang als letztes Mittel in Hospental. Wie passt das zusammen?
Wir leben in einer Zeit der Individualisierung und Selbstverwirklichung. Flexibilität und Ungebundenheit werden gesucht, Verpflichtungen gemieden. Moderne Formen des zivilgesellschaftlichen Engagements wie die Event-Freiwilligkeit entsprechen dem Zeitgeist. In der Milizarbeit hingegen sind Verbindlichkeiten und Regelmässigkeit gefragt.
Sie befragten 1800 Miliztätige in Exekutiven, Parlamenten und Kommissionen von 75 ausgewählten Gemeinden über ihre Tätigkeit. Welchen Schwierigkeiten begegnen diese Menschen bei ihrer täglichen Arbeit?
Sie berichten von einer zunehmenden inhaltlichen und zeitlichen Belastung, oft auch von Konflikten in der Zusammenarbeit oder mit dem Umfeld. Und sie berichten von einer zu geringen Wertschätzung ihrer Arbeit durch die Öffentlichkeit.
Gemäss Ihrer Studie verdient der typische Inhaber eines Ehrenamts 11'000 Franken pro Monat. Offenbar können sich nur die Reichen eine ehrenamtliche Tätigkeit leisten. Das ist alles andere als beteiligungsdemokratisch.
Es ist in der Tat so, dass in überwiegender Zahl die sozioökonomisch Bessergestellten politische Ämter besetzen. Diese Verzerrung sehen wir nicht nur auf lokaler Ebene.
Sehen Sie eine Lösung für dieses Dilemma?
Die Frage ist, ob man durch eine höhere Bezahlung auch eine Demokratisierung der Miliztätigkeit erreichen würde. Je mehr man an der Bezahlung schraubt, desto mehr entfernt man sich vom Milizprinzip. Es ist ein zweischneidiges Schwert.
Man wird sich entscheiden müssen.
Wir haben Reformvorschläge in beide Richtungen ausgearbeitet: einerseits Reformen, die möglichst nahe an der Laiendemokratie bleiben. Dazu gehören Umstrukturierungen der Verwaltungsorganisation und arbeitsmarktrelevante Zertifizierungen der Milizarbeit. Andererseits Reformen, die das Milizamt von seinem ehrenamtlichen Kern entfernen. Dazu gehören eine Erhöhung der finanziellen Entschädigung oder die Steuerbefreiung der Milizarbeit.
Wie würde eine Schweiz ohne Milizwesen aussehen?
Das Milizwesen ist unglaublich voraussetzungsreich und geht mit hoher Verantwortung und Verpflichtung einher. Das gibt es so in anderen Ländern nicht. Ich bezeichne das Milizwesen deshalb als den Goldstandard der politischen Beteiligung. Sein Verlust wäre ein tiefer Einschnitt in die politische Kultur der Schweiz und würde wichtiges politisches Kapital vernichten.