Donnerstagmorgen, sechs Uhr. Die Kantonsstrasse 8 ist abgesperrt, ein weisser Peugeot-Lieferwagen rollt bei Neunforn TG auf eine Plastikpuppe mitten auf der Fahrbahn zu. Am Steuer sitzt die Frauenfelder Richterin Christine Steiger. Es ist die Rekonstruktion des Todes von Lukas B.* (†26) – zur selben Tageszeit und bei möglichst identischen Bedingungen wie an jenem Unglücksmorgen vor genau zwei Jahren!
Opfer verstarb noch auf der Unfallstelle
Das Opfer brach damals nach einer feuchtfröhlichen Partynacht zu seiner Grossmutter auf, die in der Nähe wohnt. Doch dort kommt B. nie an. Er legt sich mitten auf die Strasse und schläft ein! Mit 60 km/h fährt Bäckerin Myrta A.* (45) auf die Stelle zu, sie will ihre Brote ausliefern. Zu spät sieht sie den dösenden Polymechaniker auf ihrer Fahrspur. A. fährt über den Betrunkenen, schleift ihn mit. Lukas B. erliegt auf der Unfallstelle den schweren Schädelverletzungen. Die Fahrerin sagt später: «Ich war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort!»
«Es tut mir leid!»
A. muss damit zurechtkommen, einem Menschen das Leben genommen zu haben. Und die Staatsanwaltschaft klagt sie wegen fahrlässiger Tötung an. Kurz nach dem Feldversuch stieg gestern ihr Prozess vor dem Bezirksgericht. «Es tut mir leid, dass das passiert ist», sagt die Frau. Ihr Verteidiger fordert einen Freispruch. B. sei «grobfahrlässig auf der Strasse zu liegen gekommen».
Die Opferfamilie ist überzeugt, dass Myrta A. auf Sichtdistanz hätte halten können. Grossmutter Erika T.* sagt: «Sie kann keine Fehler zugeben. Man sollte ihr den Führerschein lebenslänglich wegnehmen!» Opferanwalt Hermann Lei legt nach: «Es gibt keine Entschuldigung dafür, jemanden zu überfahren!» Der Schmerz der Familie ist enorm. Vor einem Jahr wurde die Gedenkstätte am Unfallort gar mit einem Hassbrief versehen: «Hättet ihr so gut zu ihm geschaut, als er stockbetrunken war, müsstet ihr jetzt keine Grabstätte pflegen!»
Gericht stellt sich auf Seite der Fahrerin
Auch Fahrerin Myrta A. hat zu kämpfen, wirkt psychisch angeschlagen. Die Opferfamilie hat sie mit Genugtuungsforderungen von über 100’000 Franken eingedeckt. Dann entscheidet das Gericht: Freispruch! «Wir haben vernünftige Zweifel daran, dass Frau A. das Opfer hätte erkennen können. Sie hatte keine Chance!», urteilt Richterin Steiger nach ihrer Testfahrt. «Nicht für jedes Unglück kann etwas oder jemand verantwortlich gemacht werden.» Die Mutter von Lukas B. stürmt mit Tränen in den Augen aus dem Saal.
* Namen der Redaktion bekannt
Ein Autofahrer wurde im Juni 2017 vor dem Regionalgericht in Biel BE der fahrlässigen Tötung schuldig gesprochen, weil er auf der A6 bei Kappelen BE eine am Boden liegende Frau überfahren hatte. Der Berufschauffeur war mit 100 Kilometern pro Stunde unterwegs, fuhr mit Abblendlicht. Er versuchte auszuweichen und bremste. Trotzdem erwischte er die 22-jährige Jana R.* Sie war sofort tot. Es stellte sich heraus: Die junge Frau wollte sich umbringen. Zudem hatte sie 1,6 Promille Alkohol im Blut. Der Autofahrer war nicht vorbestraft, er kassierte trotzdem eine bedingte Geldstrafe von 1050 Franken und eine Busse von 200 Franken. Der Grund: Er hätte laut Richterin auf Sichtweite anhalten können müssen. Beat Michel
Ein Autofahrer wurde im Juni 2017 vor dem Regionalgericht in Biel BE der fahrlässigen Tötung schuldig gesprochen, weil er auf der A6 bei Kappelen BE eine am Boden liegende Frau überfahren hatte. Der Berufschauffeur war mit 100 Kilometern pro Stunde unterwegs, fuhr mit Abblendlicht. Er versuchte auszuweichen und bremste. Trotzdem erwischte er die 22-jährige Jana R.* Sie war sofort tot. Es stellte sich heraus: Die junge Frau wollte sich umbringen. Zudem hatte sie 1,6 Promille Alkohol im Blut. Der Autofahrer war nicht vorbestraft, er kassierte trotzdem eine bedingte Geldstrafe von 1050 Franken und eine Busse von 200 Franken. Der Grund: Er hätte laut Richterin auf Sichtweite anhalten können müssen. Beat Michel