Der Mord am Frankfurter Hauptbahnhof wühlt die Menschen auf. Und eine Gemeinschaft rückt durch die Tat in den Fokus, obwohl sie nichts dafür kann: die Eritreer. Allein, dass der psychisch kranke Täter aus dem Land am Horn von Afrika stammt, genügt rechten Kreisen, dessen Diaspora pauschal zu diffamieren.
Schon kurz nach dem Mord meldete die Zürcher SVP in einer Medienmitteilung, sie kritisiere seit jeher die «lasche Asylpolitik gegenüber Eritreern». Die abscheuliche Tat zeige einmal mehr auf, dass es sich «bei solchen Personen um nicht integrierbare Gewalttäter handelt, die in der Schweiz nichts verloren haben».
Während viele nun mit dem Finger auf die Eritreer zeigen, wissen die wenigsten, was in deren Community überhaupt vorgeht, wie sie leben – und manchmal leiden.
Viele Eritreer haben traumatische Erfahrungen gemacht
Fakt ist: Die eritreische Gemeinschaft in der Schweiz ist stark gewachsen. Knapp 40'000 Eritreer leben hier, sie sind seit Jahren die grösste Asylgruppe.
Doch richtig angekommen sind nicht alle von ihnen. Arbeitsbeschränkungen, mangelnde Berufserfahrung und fehlende Sprachkenntnisse erschweren die wirtschaftliche Integration.
Kommt hinzu: Viele Eritreer haben traumatische Erfahrungen gemacht. Eine oft monatelange Flucht, durch die Wüste, übers Meer, Folter in libyschen Flüchtlingscamps sind Erlebnisse, die jahrelanges seelisches Leid nach sich ziehen können. Und über die nur die wenigsten sprechen. Denn in der stark traditionell orientierten Gesellschaft der Eritreer sind psychische Krankheiten ein Tabu.
Das weiss auch Fana Asefaw, leitende Kinder- und Jugendpsychiaterin in der Clienia-Klinik Winterthur: «Die Eritreer haben mehrheitlich eine negative Haltung zu psychischen Erkrankungen. Wenn sie entsprechende Symptome entwickeln, haben sie Sorge und Angst vor Diskriminierung und isolieren sich.» Dies wiederum könne zur Folge haben, dass sich psychische Probleme chronifizieren und die soziale und berufliche Integration zusätzlich erschwert werden.
«Besonders verletzliche Personen»
Asefaw behandelt pro Woche bis zu zehn Geflüchtete aus dem Land, in dem auch sie geboren ist, ein Grossteil davon Kinder, Jugendliche und Frauen. Sie beobachtet, dass die Hürden im Integrationsprozess deren psychische Probleme oft noch verstärken und fordert mehr Angebote, die auf die Betroffenen ausgerichtet sind – etwa mit Dolmetscherdiensten.
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe sieht das ähnlich. So mahnt Peter Meier, Leiter Asylpolitik: «Bei Asylsuchenden mit psychischen Beeinträchtigungen handelt es sich um besonders verletzliche Personen.»
Dies müsse bei Unterbringung und Betreuung zwingend berücksichtigt werden. Zentral sei zudem, dass psychische Erkrankungen bei den Flüchtlingen möglichst früh erkannt werden.
«Uns schlägt Hass entgegen.»
Genau daran hapert es. Eine Studie im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit ermittelte 2018, dass es in Deutschschweizer Asylzen-tren an der Früherkennung mangelt und die Versorgung traumatisierter Asylsuchender verbessert werden muss. Die Untersuchung schätzt, dass bis zu 60 Prozent aller Asylsuchenden an Traumata leiden.
Dass die Eritreer seit der Tat von Frankfurt unter Generalverdacht stehen, spürt die Community stellenweise drastisch. Der eritreische Medienbund etwa, eine Gruppe, die sich für Landsleute in der Schweiz einsetzt, ist mit Beleidigungen und Morddrohungen konfrontiert. Sprecher Yonas Gebrehiwet: «Uns schlägt Hass entgegen.» Die Reaktionen zeigten, dass die Schweizer Gesellschaft ein Rassismusproblem habe. «Wir sind entsetzt darüber, wie rechte Politiker den Fall instrumentalisieren.» Die Gedanken aller Eritreer seien bei den Opfern.
Gegenwind schlägt der Gemeinschaft zurzeit auch asylpolitisch entgegen. Die Schweiz hat ihre Praxis gegenüber eritreischen Flüchtlingen zuletzt verschärft und fährt mittlerweile eine deutlich restriktivere Gangart als die meisten EU-Staaten. So weist der Bund etwa immer mehr Eritreer mit dem Argument aus, eine Heimkehr sei grundsätzlich zumutbar.
Zwangsausschaffungen sind allerdings weiterhin nicht möglich. Und freiwillig wird kaum ein Eritreer zurückkehren. Denn Menschenrechtsverletzungen, Folter und Zwangsarbeit sind am Horn von Afrika nach wie vor an der Tagesordnung.