Allmählich sind die ersten Tische der Cafeteria besetzt. Ein älterer Herr mit rotkariertem Hemd und frisch frisiertem weissem Schopf sitzt vor seinem Einerli Rotwein. Ein paar Meter weiter lachen Senioren bei Kaffee und Kuchen, am Tisch daneben stossen zwei mit einer Stange Bier an. Also alles wie immer im Gesundheitszentrum Lindenhof in Oftringen AG?
Desinfektionsmittelspender in den Gängen, Schutzmasken bei den Pflegerinnen und eine Aufforderung am Empfang, Angaben fürs Contact Tracing zu machen, holen den Besucher auf den Boden der Tatsachen zurück: Das Coronavirus ist noch immer präsent.
In den Alters- und Pflegeheimen sogar besonders stark: 51 Prozent aller Corona-Todesfälle waren hier schweizweit zu beklagen. Schleppt jemand das Virus in eine solche Institution ein, breitet es sich rasch aus. Der jüngste Fall wurde am Donnerstag publik: In einem Pflegeheim in Siviriez FR fiel der Test bei 31 Bewohnern einer Altersresidenz positiv aus, auch sechs Angestellte sind infiziert.
Das Alter und ein geschwächtes Immunsystem tragen zur Sterblichkeit bei: Gemäss Zahlen des Bundes enden 27,5 Prozent der Corona-Infektionen bei über 80-Jährigen tödlich.
Mit dem nahenden Herbst gewinnt das Thema an Dringlichkeit; dann rechnen Fachleute erneut mit einer grösseren Ausbreitung von Corona. Und je mehr Menschen betroffen sind, desto grösser ist auch die Gefahr, dass Ältere unter den Infizierten sind.
Die Bewohner sind trotzdem frohen Mutes
Die Bewohner und Besucher des Lindenhofs lassen sich davon ganz offensichtlich die Laune nicht verderben und stimmen sich mit einem Apéro aufs Wochenende ein. Mit von der Partie ist Ruth Scherrer (88). Anfang Februar zog sie zusammen mit ihrem ein Jahr älteren Mann Hans hierher – einen Monat darauf wurde der Lockdown ausgerufen.
Die vergangenen Monate waren für die Senioren hart, erzählt Andrea Nyffenegger (39), die im Lindenhof den Bereich Pflege und Betreuung leitet. Die sogenannte Aktivierung – also das ganze Programm vom Turnen bis zum gemeinsamen Malen – musste zeitweise komplett ausgesetzt werden. Daraufhin versuchte das Team, mit individuellen Angeboten auf die Bewohner zuzugehen. Doch die Änderungen kamen nicht bei allen gut an, Gespräche wurden nötig.
Die Furcht vor erneuten Einschränkungen im Herbst ist gross. Epidemiologen warnen bereits seit längerem, dass in den kommenden Monaten zur Corona-Pandemie die normale Grippesaison hinzukommt, die alte und kranke Personen zusätzlich gefährdet.
Schon in den letzten Jahren führten Grippewellen bei über 65-Jährigen zu einer sogenannten Übersterblichkeit. Bisher allerdings hatte keine davon so dramatische Folgen wie Corona. In der ersten Aprilwoche starben in der Schweiz insgesamt 39 Prozent mehr Menschen als in früheren Jahren.
Viel Kummer und Unmut
Um die Bewohner der Altersheime vor dem Virus zu schützen, wurden sie Mitte März teilweise über Wochen von der Aussenwelt abgeschottet; Besuche waren verboten oder nur unter Einhaltung rigoroser Schutzregeln erlaubt. Das löste viel Kummer und Unmut aus. Bei der Unabhängigen Beschwerdestelle für das Alter (UBA) gingen während des Lockdowns 127 Beschwerden ein.
Für die UBA ist deshalb klar: Wenn es aufgrund von Covid-19 im Herbst wieder zu Einschränkungen kommt, muss das Besuchsrecht für Bewohnende in besonders schwierigen Situationen – etwa bei Demenz, Schwerhörigkeit oder Blindheit – sowie in der Sterbephase grosszügiger und individueller gehandhabt werden.
Auch die 88-jährige Ruth Scherrer aus dem Lindenhof hatte schwer zu kämpfen. Immerhin: Ihre Liebsten durfte sie – in sicherem Abstand – im Garten des Heims auf einem Bänkli treffen. Dafür ist die Seniorin dankbar. Einige Bewohner, erzählt sie, hätten gar keinen Besuch bekommen.
Eine erneute Isolation der Altersheime müsse unbedingt vermieden werden, warnt Felix Huber von der Corona-Taskforce des Bundes. «Wir müssen sicher viel Respekt haben und vorsichtig sein. Aber wir dürfen alte Leute nicht mehr wegsperren wie während der ersten Welle. Die Situation war für die betagten Leute psychologisch eine Katastrophe.»
Besuchsverbot soll unbedingt vermieden werden
Auch Andreas Stuck, Präsident der Schweizerischen Fachgesellschaft für Geriatrie und Klinikdirektor der Geriatrischen Universitätsklinik am Inselspital Bern, will ein Besuchsverbot unbedingt vermeiden. Er beobachtet die Lage mit Sorge. Zwar arbeiteten viele Heime an Corona-Konzepten, eine gesamtschweizerische Koordination fehle aber. Stuck fordert nationale Koordination und verstärkte Zusammenarbeit zwischen den Kantonen. Weil es kaum Absprachen gebe, sei nicht wirklich klar, ob sämtliche Heime über genügend Schutzmaterial und geschultes Personal verfügen.
Markus Leser, Leiter Fachbereich Menschen im Alter beim Dachverband der Pflegeheime Curaviva Schweiz, lehnt hingegen schweizweite Vorschriften durch den Bund ab: «Die Kantone benötigen die Möglichkeit, auf ihre spezifische epidemiologische Situation reagieren zu können.» Die Ausgangslage sei heute anders als vor einem halben Jahr. Damals sei man vom Virus überrascht worden, heute wisse man mehr. «Die Institutionen verfügen über ein angepasstes Schutzkonzept, und die heutige Testpolitik lässt ein rasches Handeln zu. Auch gibt es momentan keine Engpässe mehr beim Schutzmaterial», ist er überzeugt.
Ralph Bürge (61), Geschäftsführer der Stiftung Lindenhof, will im Hinblick auf den Herbst Besucher und Mitarbeitende noch einmal verstärkt für diese Fragen sensibilisieren.
Weiterhin gilt: Mitarbeitende, welche Symptome entwickeln, müssen zu Hause bleiben. Schliesslich kann auch die Grippesaison das Personal treffen. Sorgen über einen Engpass hat Bürge dennoch nicht. Er vertraut darauf, dass die strikten Hygienevorschriften die Grippe von Bewohnern und Angestellten fernhalten wird.
«unserer Pest»
Bisher ist der Lindenhof von Corona verschont geblieben. Sollte es zu einer Infektion kommen, wird die betreffende Person sofort isoliert. Das Gesundheitszentrum ist darauf vorbereitet, Bewohner vor Ort zu behandeln. Viele haben eine Patientenverfügung unterschrieben, die von einer Verlegung ins Spital absieht. «Dieser Wunsch ist zu respektieren», sagt Bürge.
Der Lindenhof hat sich mittlerweile auf die neue Normalität eingerichtet. Ob die Heimbewohner auch im Herbst zusammen einen Apéro geniessen dürfen wie am Freitagnachmittag, muss sich zeigen. Ruth Scherrer hat sich jedenfalls an den Umgang mit «unserer Pest» gewöhnt, wie sie Covid-19 nennt. Natürlich hofft sie, dass sie nicht schwer krank wird. Angst vor dem Virus habe sie aber keine. Mit Angst im Herzen könne man das Leben nicht geniessen.
Obwohl sie das ständige Händewaschen manchmal mühsam findet, ist ihr klar: «Wir müssen das jetzt einfach machen. Es bleibt uns nichts anderes übrig, wenn wir unsere Freiheiten wieder zurückhaben wollen.»
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