Am 11. Mai kehren die Kinder in die Primar- und Sekundarschulen zurück. Hinter ihnen liegen Wochen, in denen sie per E-Schooling zu Hause lernten. Wie hat das geklappt? Und welche Lehren ziehen die Schulen für den zukünftigen Einsatz digitaler Hilfsmittel? Darüber spricht Dagmar Rösler, Präsidentin des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH), im Interview, das telefonisch geführt wurde.
BLICK: Wie hat Ihrer Meinung nach die Schule den digitalisierten Unterricht bis jetzt gemeistert?
Dagmar Rösler: Grundsätzlich kann man sagen: sehr gut.
Wirklich? Es gab doch ein ziemliches Durcheinander – einzelne Kinder hatten kaum etwas zu tun, andere viel zu viel.
Es hat natürlich schon eine Weile gebraucht, bis Lehrerinnen und Lehrer gemerkt haben, was das richtige Mass ist. Innerhalb der Familien gibt es aber auch grosse Unterschiede – ob nun ein Einzelkind gezielt gefördert wird oder ob da noch diverse Geschwister unterschiedlichen Alters zusätzlich betreut werden, macht auch etwas aus, wie die einzelnen Arbeitsaufträge gelöst werden können. Ausserdem arbeiten ja auch nicht alle Kinder gleich schnell und speditiv.
Trotzdem: Bis vor den Frühlingsferien den Eltern alles klar war, hat es ziemlich gedauert …
Es war ja auch für alle eine ausserordentlich schwierige Situation! Zunächst mussten die Lehrpersonen auch abklären, ob für die Kinder überhaupt Geräte zur Verfügung stehen für das E-Learning. Es gibt längst nicht in jedem Haushalt einen Computer oder auch nur einen Drucker, um Arbeitsblätter auszudrucken. Das brauchte etwas Zeit. Nach den Frühlingsferien ging das bereits viel strukturierter. Ich habe von vielen Beispielen gehört, wo es von Anfang an sehr gut geklappt hat.
Aber weshalb gab und gibt es so viele unterschiedliche E-Learning-Plattformen?
Das liegt an unserem föderalistischen System, in dem Entscheidungen, welche technische Ausrüstung angeschafft wird, auf tiefer Ebene angesiedelt sind, also auf Gemeinde- und Kantonsebene. Jede Schule oder jeder Schulkreis entscheidet aufgrund von kantonalen Empfehlungen selber, welche Plattformen sie benutzen will. Das liegt daran, dass meist die Schulen entscheiden, was angeschafft wird. Ausserdem ist auch nicht jede Schule gleich gut ausgerüstet, da gibt es relativ grosse Unterschiede. Schulen, die bereits digital gelernt haben und folglich mit guter technischer Ausrüstung ausgestattet sind, hatten es sicher leichter.
Aber gibt es denn keine obligatorischen Weiterbildungen für Lehrer, was das E-Learning und den digitalisierten Unterricht betrifft?
Im neuen Lehrplan 21 gibt es Module, welche die Digitalisierung betreffen. Die Weiterbildungen hierzu sind an den Pädagogischen Hochschulen meist komplett ausgebucht. Die Schulen sind also dran und bilden sich obligatorisch weiter.
Was sagen Sie zur Kritik, die in den letzten Wochen an der Volksschule laut geworden ist?
Mir ist keine Kritik zu Ohren gekommen, dass es in der Volksschule mit dem Fernunterricht schlecht laufen sollte. Einzelne Fälle schon, aber sicher nicht flächendeckend! Es läuft sicher nicht ganz überall hervorragend, aber man muss auch sehen: Am Freitagabend wurde bekannt, dass am Montag die Schulen geschlossen bleiben. Da muss man menschlich bleiben. Es war gar nicht möglich, in so kurzer Zeit ein System, das überall gleich ist, hochzufahren.
Es gab aber seit Jahren Experten, die vor Pandemien warnten. Hat die Schule da nicht einiges verschlafen?
Diese Kritik ist aber an Bund und Kantone zu richten, nicht an die Schule. Pandemiepläne sind Sache von Bund und Kantonen. Man darf hier nicht den Schulen den Schwarzen Peter zuschieben. Schulen sind aus heiterem Himmel erwischt worden, wie wie viele andere auch.
Abgesehen von Krisenzeiten: Ist digitalisierter Unterricht die Zukunft?
Es ist altersabhängig, ob digitalisierter Unterricht Sinn ergibt. Grundsätzlich kann man aber sagen, dass auf allen Stufen die Beziehung zur Lehrperson wichtig ist – Lernen funktioniert über Beziehung. Und dann gibt es auch einen Zusammenhang zwischen Haptik, also Dingen, die ich mit den Händen fassen und tun kann, und Lernen. Oftmals bleibt einem etwas eher, das man von Hand geschrieben hat, als wenn man es getippt hat. Digitales Lernen muss mit herkömmlichem Lernen Hand in Hand gehen. Es darf es bereichern, aber es darf auf keinen Fall das Haptische, das Erleben in einer Gruppe oder die Beziehung zur Lehrperson ersetzen. Auch auf der Oberstufe nicht. Digitale Lernformen sind nun aber etabliert, die werden sicher bleiben.
Der Bund hat entschieden, dass die Schule ab 11. Mai wieder aufgeht. Halten Sie das für verfrüht?
Ich persönlich?
Ja.
Ich persönlich sehe das pragmatisch und habe nicht so Angst. Aber ich bin mir bewusst, dass es Menschen gibt, die Angst haben. Man muss da zwei Dinge abwägen: Zum einen gibt es unbestritten ein Risiko, wenn nun wieder mehrere Menschen in einem Raum sind. Andererseits muss man aber auch an die psychische Gesundheit der Kinder denken, die seit Wochen zu Hause sind. Grundsätzlich befürwortet der Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz die Öffnung der Schulen am 11. Mai – unter gewissen Voraussetzungen.
Welche Voraussetzungen?
Zum Beispiel der Schutz der Lehrpersonen und Kinder, die zu Risikogruppen gehören.
Und wie schützen Sie diese konkret?
Der Bundesrat hat Grundprinzipien erlassen, die für alle Kantone verbindlich sein sollen. Die Kantone haben sich an diese Vorgaben zu halten, sind aber frei, wie sie den Präsenzunterricht ausgestalten. Wir hätten uns genauere Vorgaben des Bundes gewünscht, damit nicht in jedem Kanton wieder eine andere Variante entsteht.
Falls die Fallzahlen wieder steigen, schliessen dann die Schulen wieder?
Das wird der Bund dann entscheiden.
Ihnen ist also kein Konzept bekannt für den Fall eines erneuten Anstiegs?
Nein, unserem Verband ist nichts bekannt.
Es gibt bereits einen Lehrermangel – wie geht das, wenn nun noch die Risikogruppen-Lehrer ausfallen?
Da müssen die Schulen Konzepte ausarbeiten. Es wäre aber sicher nicht gut, Klassen zu vergrössern in Zeiten, in denen man möglichst Distanz halten sollte.
Haben Lehrer Angst, wieder zu unterrichten?
Ja, teilweise schon, und ich kann das auch nachvollziehen. Es gibt aber ja jetzt die medizinischen Studien, die besagen, dass Kinder kaum Überträger sind.
Ja, das sagen sie in der Schweiz. In italienischen und englischen Medien wird hingegen berichtet, Kinder seien sozusagen ein Virenreservoir.
Das ist ja auch unser Problem – man weiss noch zu wenig darüber, wie sich das Virus bei Kindern langfristig wirklich auswirkt, es gibt widersprüchliche Berichte. Da werden sich teilweise Eltern wehren.
Sie meinen, dass sich Eltern weigern werden, Ihre Kinder in die Schule zu schicken?
Ja, das ist zu erwarten.
Wie werden Schulen darauf reagieren?
Das liegt im Ermessen der Schulen oder der Kantone. Ich persönlich fände es den falschen Weg, solche Eltern zu büssen.
Mein achtjähriger Zweitklässler hätte auch noch eine Frage an Sie.
Jöh – welche denn?
Max (8): Ich habe sehr, sehr viel mit dem Mami gearbeitet. Warum darf ich dafür im Sommer kein Zeugnis und keine Note haben?
Nicht alle Kinder haben ein Mami, das gern mit ihnen arbeitet. Bei einigen Familien klappt das nicht so gut. Für diese Kinder wäre es sehr unfair, wenn sie jetzt Noten bekämen, wenn sie wenig lernen konnten. Aber sicher hat dir deine Lehrerin oder dein Lehrer gesagt, ob du gut gearbeitet hast. Das finde ich noch fast wichtiger als Noten.
Dagmar Rösler (48) ist Primarlehrerin und Zentralpräsidentin des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH). Sie lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Töchtern in Oberdorf SO.
Dagmar Rösler (48) ist Primarlehrerin und Zentralpräsidentin des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH). Sie lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Töchtern in Oberdorf SO.
BLICK ist Partner von Educreators, einer Initiative, die jedes Jahr zehn herausragende Projekte im Bereich E-Schooling auszeichnet – im Jahr 2020 aktueller denn je. Mitmachen können Kindergarten-, Primarschul- und Sekundarstufen-Lehrerinnen und -Lehrer sowie Schulleiterinnen und Schulleiter von Volks- und Privatschulen. Zu gewinnen gibt es unter anderem 10'000 Franken Fördergeld. Mehr Informationen und Teilnahme unter educreators.ch.
BLICK ist Partner von Educreators, einer Initiative, die jedes Jahr zehn herausragende Projekte im Bereich E-Schooling auszeichnet – im Jahr 2020 aktueller denn je. Mitmachen können Kindergarten-, Primarschul- und Sekundarstufen-Lehrerinnen und -Lehrer sowie Schulleiterinnen und Schulleiter von Volks- und Privatschulen. Zu gewinnen gibt es unter anderem 10'000 Franken Fördergeld. Mehr Informationen und Teilnahme unter educreators.ch.
Das Coronavirus beschäftigt aktuell die ganze Welt und täglich gibt es neue Entwicklungen. Alle aktuellen Informationen rund ums Thema gibt es im Coronavirus-Ticker.
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