Sparen ist das Gebot der Stunde im Schweizer Gesundheitswesen. Fragt sich nur, wo und bei wem? SonntagsBlick liegen die neusten Zahlen der Kinderspitäler vor. Und die besagen: Gespart wird auf Kosten der Kleinsten.
Im Jahr 2018 schrieben die sechs grossen Kinderspitäler Zürich, Basel, St. Gallen, Bern, Lausanne und Genf insgesamt 60 Millionen Franken Defizit im ambulanten Bereich. Das sind über zehn Prozent mehr als im Jahr zuvor. Im Fall der drei eigenständigen Kinderspitäler Zürich, Basel und St. Gallen sind es gar 25 Prozent mehr.
Verantwortlich dafür machen die Kinderspitäler die Revision des Ärztetarifs Tarmed durch SP-Bundesrat Alain Berset (47). Sie trat am 1. Januar 2018 in Kraft.
Tarmed legt fest, was ärztliche Leistungen kosten dürfen
«Die Kindermedizin ist akut bedroht», sagt Agnes Genewein (51), Geschäftsführerin der Allianz Kinderspitäler der Schweiz (AllKidS), in der sich die drei eigenständigen Kinderspitäler zusammengeschlossen haben.
Der umstrittene Tarmed ist ein Vertrag zwischen Ärzten, Spitälern und Krankenkassen. Er legt fest, was ärztliche Leistungen im ambulanten, also nicht-stationären Bereich kosten dürfen: von der Blutentnahme über das Beratungsgespräch bis zur Röntgenuntersuchung.
Der Tarif wurde 2004 eingeführt und muss regelmässig überarbeitet werden. Können sich die Tarifpartner nicht einigen, spricht der Bundesrat ein Machtwort. Nach 2014 tat er dies im letzten Jahr zum zweiten Mal: Gesundheitsminister Berset verordnete eine Tarifreduktion, mit der die Effizienz medizinischer Behandlungen gesteigert werden soll.
Massstab ist die Erwachsenenmedizin
Doch was in der Erwachsenenmedizin – hoffentlich – zu Kostensenkungen führt, wirkt sich in der Kindermedizin verheerend aus. Genewein: «Die steigenden Defizite der Kinderspitäler sind das Resultat des Tarmed-Eingriffs durch Bundesrat Berset.»
Tarmed orientiert sich an der Erwachsenenmedizin – und folgt dabei der Devise: Röntgenuntersuchung ist Röntgenuntersuchung – egal, wie alt der Patient ist.
«Und das ist das Problem», sagt Genewein. «Kindermedizin ist viel aufwendiger und zeitintensiver als Erwachsenenmedizin.» Was letztlich dazu führt, dass die Kinder-spitäler die im Tarmed festgesetzten Zeitlimiten nicht einhalten können.
350'000 Kinder von seltenen Krankheiten betroffen
Das bekommen besonders die drei AllKidS-Kinderspitäler Zürich, Basel und St. Gallen zu spüren. Über ein Drittel ihrer kleinen Patienten leidet an seltenen Krankheiten, die eine besonders aufwendige Behandlung erfordern. Häufig handelt es sich um Gendefekte oder Stoffwechselkrankheiten.
In der Schweiz sind über 350'000 Kinder von einer seltenen Krankheit betroffen. Sie können nicht in einer Praxis betreut werden. Spezialisten dafür gibt es nur in den Kinderspitälern. «Tarmed berücksichtigt das nicht», sagt die Neonatologin Genewein, die sich am Kinderspital beider Basel um Neu- und Frühgeborene kümmert. Dann erzählt sie von Fatima, die dort im Frühling auf die Welt gekommen ist.
Schon vor Fatimas Geburt war klar: das Mädchen leidet unter sogenannten Migrationsstörungen des Gehirns, ihre Hirnzellen wachsen nicht dort, wo sie hingehören. Nach Fatimas Geburt ordnen die Ärzte eine Reihe von Untersuchungen an. Darunter auch eine Magnetresonanztomografie, ein Verfahren, das Gewebe und Organe sichtbar macht.
Zweieinhalb Stunden statt einer halben für die Tomografie
Weil Fatima gravierende Atemprobleme hat, bräuchte sie im Tomografen ein spezielles Beatmungsgerät. Diese 40'000 Franken teure Maschine aber gibt es in Basel nicht. Ein Assistent muss Fatima deshalb von Hand beatmen. Dazu legt er sich mit dem Kind in den Tomografen. Der Kinderradiologe startet die erste Sequenz, Neonatologin Genewein überwacht Fatima von aussen. Sobald sich das Kind bewegt, muss die Sequenz unterbrochen und von vorne gestartet werden.
Die Prozedur ist aufwendig. Und sie braucht Zeit. Am Ende schlagen zweieinhalb Stunden für die Tomografie zu Buche. Bei einem Erwachsenen wären es zwanzig Minuten. «Diese zwanzig Minuten sind von Tarmed auch in Fatimas Fall gedeckt», sagt Genewein. «Der Rest ist Defizit.»
Fälle wie dieser sind für sie Alltag.
Krebs bei Kindern in 80 Prozent der Fälle heilbar
Die Leistungsbilanz der modernen Kindermedizin ist beeindruckend. Noch in den 1960er-Jahren überlebte kein Kind eine Krebserkrankung. Heute ist Krebs bei Kindern in 80 Prozent der Fälle heilbar. Nierentransplantationen ermöglichen inzwischen auch kleinen Patienten ein normales Leben, früher waren sie an die Dialyse gekettet. Schwere Immundefekte bei Kindern führten noch bis vor kurzem zum Tod, weil sie nicht entdeckt wurden. Seit diesem Jahr gibt es ein Neugeborenen-Screening, das solche Defekte sichtbar macht – und damit behandelbar.
Operationen am offenen Rücken sind heute bereits im Mutterleib möglich. Auch die Situation für Kinder, die nicht geheilt werden können, hat sich markant verbessert: Fortschritte in der Palliativpflege ermöglichen ihnen ein schmerzfreies und würdevolles Sterben im eigenen Zuhause.
«Doch ausgerechnet diese Hausbesuche werden von Tarmed miserabel abgerechnet», sagt Michael Grotzer (55), Ärztlicher Direktor des Kinderspitals Zürich. Es ist paradox: Die moderne Kindermedizin ist eine Erfolgsgeschichte. Bloss kosten darf sie nichts.
Nächste Gesamtrevision erst 2021 wirksam
Besonders prekär ist die Lage für die AllKidS-Kinderspitäler. Bislang werden ihre Defizite von Stiftungen und den Trägerkantonen aufgefangen. Doch die sind nicht länger bereit, jedes Jahr mehr zu zahlen. Stattdessen drängen nun auch die Kantone auf eine Änderung des Tarifsystems. Mitte August wird die Gesundheitskommission des Ständerats gleich mehrere kantonale Standesinitiativen diskutieren, die eine Anpassung des Tarmed fordern.
Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) sieht keinen Grund, den bundesrätlichen Tarifeingriff zu korrigieren. Es verweist auf die nächste Gesamtrevision. Der geplante Tarmed-Nachfolger namens Tardoc wird allerdings frühestens 2021 wirksam. Ob er für die Kinderspitäler eine Verbesserung bringt, ist ungewiss.
Auf den Tardoc wollen die Kinderspitäler ohnehin nicht warten. Sie fordern eine rasche Anpassung des Tarmed. Agnes Genewein: «Ohne Änderung der Tarifstrukturen können die AllKidS-Kinderspitäler nicht überleben.» Damit droht auch die Forschung auf dem Gebiet der Kindermedizin zusammenzubrechen.
Schlimmer noch: Die Kindermedizin läuft Gefahr, hinter das Erreichte zurückzufallen. Denn Behandlungen, die heute möglich sind, könnten schon bald nicht mehr durchgeführt werden. Weil sie zu teuer sind.
Und das in der Schweiz – gemessen am Geldvermögen pro Kopf das reichste Land der Welt.
Wir alle stöhnen über die Kosten im Gesundheitswesen. Wundern muss sich freilich niemand: Die Berechnungsgrundlagen dafür, wieviel eine medizinische Behandlung kostet, heissen Tarmed und DRG. Letzteres ist die Abkürzung für «Diagnosis Related Groups», zu Deutsch: «Diagnosebezogene Gruppen».
Ein Wort wie Pestilenz!
Glaubt jemand ernsthaft, dass bei sprachlichen Ungetümen wie diesem etwas Gutes herausschaut?
Erfunden hat das DRG-Konzept der amerikanische Wirtschaftsingenieur Robert B. Fetter. Ende der 1960er-Jahre erklärte er das Krankenhaus zur Fabrik. Wie am Fliessband, so sein Gedankengang, würden auch im Spital die einzelnen Komponenten nach und nach zu einem Endprodukt zusammengefügt.
Bis dahin galten Spitäler als Orte, wo Patienten gepflegt werden und Ärzte ihre Heilkunst praktizieren. Weshalb verfiel Robert B. Fetter auf die irre Idee, das Krankenhaus zur Fabrik zu degradieren?
Mit seiner Methode liessen sich medizinische Leistungen standardisieren. Wenn eine bestimmte Schraube beim Auto stets gleich viel kostet, sollte auch ein bestimmter medizinischer Eingriff immer den selben Preis haben. Gewiss ist eine Blinddarmoperation teurer als ein Blick in den Rachen – sie besteht ja aus mehr Komponenten. Doch kein Unterbauch-Eingriff sollte mehr kosten als der andere.
Mit Robert B. Fetter kam das Managementdenken in die Medizin. Von den USA griff dieser Virus allmählich auf andere Länder über. In der Schweiz gilt der «SwissDRG» für stationäre Behandlungen im Krankenhaus seit 2012. Schon ein paar Jahre früher war für ambulante Dienstleistungen auch ausserhalb der Spitäler das Tarifsystem Tarmed eingeführt worden, das ebenfalls nach der Logik von Fliessband und gleich teurer Schraube funktioniert.
Im nebenstehenden Text beschreibt mein Kollege Danny Schlumpf eine eklatante Schwäche dieses Prinzips. Benötigt der Erkrankte mehr Aufwand als vom Tarifsystem vorgesehen, rechnet sich das Ganze nicht. Betroffen sind vor allem Kinder und alte Menschen. Diesen besonders schwachen Patienten wird darum oftmals nicht die richtige Behandlung zuteil, sondern die vermeintlich günstigste.
Die bittere Pointe ist, dass die Vorherrschaft betriebswirtschaftlichen Denkens in der Medizin nicht nur einzelnen Patienten schadet. Nein, das System ist auch aus finanzieller Sicht ein Fiasko.
Die Politik hat DRG und Tarmed eingeführt, um die Gesundheitskosten in den Griff zu kriegen. Tatsächlich aber bewirkt die Gleichsetzung des Spitals mit einer Fabrik das Gegenteil.
Ein betriebswirtschaftlich denkender Arzt hat automatisch weniger das Wohl des Patienten im Auge als den eigenen Gewinn. Dem Patienten seinerseits wird eingeimpft, Gesundheit sei nichts weiter als ein Konsumgut. Gesund ist oder wird, wer möglichst viel konsumiert. Also konsumieren wir alle tüchtig, der Gesundheitsmarkt wächst und wächst – und mit ihm die Kosten.
Operation gelungen, Patient tot.
Wir alle stöhnen über die Kosten im Gesundheitswesen. Wundern muss sich freilich niemand: Die Berechnungsgrundlagen dafür, wieviel eine medizinische Behandlung kostet, heissen Tarmed und DRG. Letzteres ist die Abkürzung für «Diagnosis Related Groups», zu Deutsch: «Diagnosebezogene Gruppen».
Ein Wort wie Pestilenz!
Glaubt jemand ernsthaft, dass bei sprachlichen Ungetümen wie diesem etwas Gutes herausschaut?
Erfunden hat das DRG-Konzept der amerikanische Wirtschaftsingenieur Robert B. Fetter. Ende der 1960er-Jahre erklärte er das Krankenhaus zur Fabrik. Wie am Fliessband, so sein Gedankengang, würden auch im Spital die einzelnen Komponenten nach und nach zu einem Endprodukt zusammengefügt.
Bis dahin galten Spitäler als Orte, wo Patienten gepflegt werden und Ärzte ihre Heilkunst praktizieren. Weshalb verfiel Robert B. Fetter auf die irre Idee, das Krankenhaus zur Fabrik zu degradieren?
Mit seiner Methode liessen sich medizinische Leistungen standardisieren. Wenn eine bestimmte Schraube beim Auto stets gleich viel kostet, sollte auch ein bestimmter medizinischer Eingriff immer den selben Preis haben. Gewiss ist eine Blinddarmoperation teurer als ein Blick in den Rachen – sie besteht ja aus mehr Komponenten. Doch kein Unterbauch-Eingriff sollte mehr kosten als der andere.
Mit Robert B. Fetter kam das Managementdenken in die Medizin. Von den USA griff dieser Virus allmählich auf andere Länder über. In der Schweiz gilt der «SwissDRG» für stationäre Behandlungen im Krankenhaus seit 2012. Schon ein paar Jahre früher war für ambulante Dienstleistungen auch ausserhalb der Spitäler das Tarifsystem Tarmed eingeführt worden, das ebenfalls nach der Logik von Fliessband und gleich teurer Schraube funktioniert.
Im nebenstehenden Text beschreibt mein Kollege Danny Schlumpf eine eklatante Schwäche dieses Prinzips. Benötigt der Erkrankte mehr Aufwand als vom Tarifsystem vorgesehen, rechnet sich das Ganze nicht. Betroffen sind vor allem Kinder und alte Menschen. Diesen besonders schwachen Patienten wird darum oftmals nicht die richtige Behandlung zuteil, sondern die vermeintlich günstigste.
Die bittere Pointe ist, dass die Vorherrschaft betriebswirtschaftlichen Denkens in der Medizin nicht nur einzelnen Patienten schadet. Nein, das System ist auch aus finanzieller Sicht ein Fiasko.
Die Politik hat DRG und Tarmed eingeführt, um die Gesundheitskosten in den Griff zu kriegen. Tatsächlich aber bewirkt die Gleichsetzung des Spitals mit einer Fabrik das Gegenteil.
Ein betriebswirtschaftlich denkender Arzt hat automatisch weniger das Wohl des Patienten im Auge als den eigenen Gewinn. Dem Patienten seinerseits wird eingeimpft, Gesundheit sei nichts weiter als ein Konsumgut. Gesund ist oder wird, wer möglichst viel konsumiert. Also konsumieren wir alle tüchtig, der Gesundheitsmarkt wächst und wächst – und mit ihm die Kosten.
Operation gelungen, Patient tot.