In dieser Woche hat der Bund bekannt gegeben, dass die Schweiz wegen Corona in eine Rezession gerutscht ist. SonntagsBlick hat deshalb Jan-Egbert Sturm, Leiter der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich (KOF), zum grossen Interview getroffen, um zu erfahren, wie wir die Krise am besten meistern.
Herr Sturm, Sie leiten die Expertengruppe Wirtschaft der nationalen Covid-19-Taskforce. Wie gross ist Ihr Einfluss auf die wirtschaftspolitischen Entscheide des Bundesrates?
Jan-Egbert Sturm: Ich tausche mich zweimal pro Woche mit den Leitern der anderen Covid-Arbeitsgruppen aus. Die Taskforce ist im engen Austausch mit den Ministerien und teilt diesen laufend ihre Überlegungen mit. Das sind aber lediglich Empfehlungen. Entscheiden muss am Ende der Bundesrat.
Wie beurteilen Sie die bisherigen Massnahmen der Regierung?
Das Kreditprogramm, der Ausbau der Kurzarbeit sowie der Corona-Erwerbsersatz für Selbständige waren sehr gute Massnahmen, die schnell und unbürokratisch geholfen haben. Damit ist es aber nicht getan. Ein grosses Problem ist, dass viele Firmen wegen Corona nicht mehr in die Zukunft investieren können. Es fehlt an Vertrauen und Mitteln. Der Bund muss deshalb Geld und Sicherheiten zur Verfügung stellen, damit die Firmen wieder in zukunftsträchtige Technologien und Geschäftsmodelle investieren.
Wie soll diese Hilfe konkret aussehen?
Eine Möglichkeit wäre, dass der Bund für Inves titionskredite bürgt. Der Bund könnte zum Beispiel 70 Prozent der Ausfallrisiken übernehmen, das restliche Risiko bleibt bei den Banken. So wäre sichergestellt, dass die Banken nur Projekte finanzieren, die tatsächlich Aussicht auf Erfolg haben.
Am meisten Jobs gefährdet sind in der Hotellerie, der Gastronomie und der Reisebranche. Diese Branchen haben das Problem, dass die Menschen nicht mehr ins Restaurant gehen und nicht mehr reisen dürfen. Daran würden Kredite nichts ändern.
Auch in diesen Bereichen gibt es Fälle, in denen Investitionskredite helfen könnten. Nehmen wir ein Hotel oder Restaurant in Luzern, das sich voll auf asiatische Gäste spezialisiert hat: Da gibt es vielleicht die Möglichkeit, durch neue Angebote mehr Schweizer Gäste anzuziehen. Aber es stimmt: In Bereichen, in denen die Nachfrage auf absehbare Zeit ausbleiben wird, bringen Kredite wenig.
Viele Gastro- und Tourismusbetriebe halten sich nur dank Kurzarbeit über Wasser. Macht das langfristig Sinn?
Nein. Wenn in einem Betrieb keine Aussicht darauf besteht, dass Kunden und Aufträge in den kommenden Monaten zurückkommen, dann macht Kurzarbeit keinen Sinn. Kurzarbeit ist ein hervorragendes Instrument, um Strukturen aufrechtzuerhalten, das heisst, um einen kurzfristigen Nachfrageeinbruch aufzufangen. Kurzarbeit über Jahre hinweg hilft dagegen niemandem.
Was ist die Alternative?
Wir kommen nicht darum herum, gewisse Betriebe in Konkurs gehen zu lassen. In der Reisebranche, bei Hotels, Restaurants, Bars und Clubs werden Jobs wegfallen. Das kann der Staat nicht verhindern, so hart es für die Betroffenen ist. Hierdurch können allerdings anderswo neue Jobs entstehen.
Im internationalen Vergleich ist die Schweiz bis jetzt relativ gut durch die Krise gekommen. Doch per Ende Mai – neuere Zahlen gibt es nicht – steckten fast 900'000 Menschen in Kurzarbeit. Hinzu kommen rund 60'000 selbständig Erwerbende, bei denen die staatliche Unterstützung Mitte September ausläuft. Da kann einem angst und bange werden. Was bewahrt uns vor einer Massenarbeitslosigkeit von zehn Prozent oder mehr?
Eine Arbeitslosenquote von zehn Prozent ist für die Schweiz absolut undenkbar. Dafür ist die Schweizer Wirtschaft zu stark aufgestellt. Heute in einem Jahr rechnen wir für die Schweiz mit einer Arbeitslosenquote von über vier Prozent. Allerdings beobachten wir ein anderes Phänomen: Längst nicht alle, die wegen Corona ihren Job verlieren, suchen aktiv nach einem neuen Job. Sie haben sich zumindest vorübergehend vom Arbeitsmarkt zurückgezogen.
Damit ist das Problem nicht gelöst. Über kurz oder lang brauchen diese Leute Geld. Das wird den Sozialstaat enorm belasten. Wer soll das bezahlen?
Viele Schweizer haben finanzielle Reserven oder einen Partner, der nach wie vor ein Einkommen hat. Zudem ist die Staatsverschuldung im internationalen Vergleich extrem tief, und wir haben die Mittel, um die sozialen Auswirkungen der Krise abzufedern.
Auch an den Staatskassen wird die Krise nicht spurlos vorbeigehen. Die Steuereinnahmen werden einbrechen. Erste Städte und Kantone haben bereits Sparmassnahmen angekündigt.
Sparen ist jetzt nicht das, was der Staat machen sollte. Damit wird die Krise nur länger andauern. Der Staat sollte in einer Hochkonjunktur sparen, nicht wenn die Wirtschaft eindeutig unterausgelastet ist. Zudem geht es längst nicht allen Firmen schlecht. Es gibt auch Firmen, die in der Krise so viel verdient haben wie nie zuvor, zum Bei-spiel gewisse Lebensmittelhändler, Onlineshops und Pharmaunternehmen. Wir könnten darüber nachdenken, die Gewinne der Krisengewinner höher zu besteuern – und mit dem Geld die Verlierer der Krise zu unterstützen.
Dann bestraft man Firmen, die die Krise erfolgreich gemeistert haben. Das klingt unfair.
Das mag ein Stück weit unfair klingen. Allerdings ist es so, dass in der Krise zu einem grossen Teil der Zufall entschieden hat, welche Firmen höhere Gewinne machen. Im Gegensatz zur Finanzkrise, wo die Politik, Banken und Wirtschaft selbst Fehler gemacht haben, sind Eventveranstalter, Reise-, Gastro- und Hotelleriebetriebe unverschuldet in finanzielle Nöte geraten. Deshalb wäre eine Umverteilung meiner Meinung nach gerechtfertigt.
Es sind aussergewöhnliche Zeiten. Was ist das Worst-Case-Szenario für die Schweizer Wirtschaft?
Das Worst-Case-Szenario ist, dass es zu einem erneuten Lockdown kommt, weil die Infektionszahlen so stark ansteigen, dass wir die Situation sonst nicht mehr kontrollieren können. Das müssen wir wirklich versuchen zu verhindern.
Ab Oktober hat der Bundesrat Veranstaltungen mit mehr als 1000 Leuten wieder erlaubt. Das erhöht tendenziell die Gefahr von steigenden Infektionszahlen. Ist das ein Fehler?
Das wird sich zeigen. Aber ich sehe die Aufhebung des Grossveranstaltungsverbots kritisch. Wenn man das macht, dann muss zumindest ein zuverlässiges Contact Tracing sichergestellt werden. Dafür sollten alle verfügbaren Möglichkeiten genutzt werden. Die Veranstalter von Grossanlässen sollten sich zum Beispiel überlegen, ihre Gäste zur Nutzung der offiziellen Covid-App zu verpflichten. Der Bund kann die Bürger nicht dazu verpflichten, die Tracing-App zu nutzen. Das Hallenstadion als privater Veranstalter sollte aber sagen: Du kannst nur an das Konzert, wenn du die Tracing-App installiert hast.
Jan-Egbert Sturm denkt über eine Krisengewinnsteuer nach. Ähnliches gab es in der Schweiz auch schon – Krisenzeiten sind Steuerzeiten: Zur Deckung der Mobilisationskosten erhob der Bund in den beiden Weltkriegen die Kriegsgewinnsteuer. Als steuerbarer Kriegsgewinn galt der Betrag, der den Reinertrag in den Vorkriegsjahren überstieg. Die erste Kriegsgewinnsteuer warf insgesamt einen 670 Millionen Franken für den Bund und 62 Millionen für die Kantone ab. Während des Zweiten Weltkrieges gab es eine ganze Reihe weiterer Sondersteuern: 1940 und 1942 wurde eine spezielle Vermögenssteuer erhoben, Anfang 1941 trat die «Wehrsteuer» in Kraft. Im Herbst 1941 kam die Warenumsatzsteuer für Güter des täglichen Bedarfs; die WuSt wurde 1995 durch die Mehrwertsteuer abgelöst. Nach wie vor in Kraft ist die Verrechnungssteuer auf Kapitalerträge, die 1943 geschaffen wurde. 2019 brachte sie dem Bund 8,3 Milliarden Franken ein.
Jan-Egbert Sturm denkt über eine Krisengewinnsteuer nach. Ähnliches gab es in der Schweiz auch schon – Krisenzeiten sind Steuerzeiten: Zur Deckung der Mobilisationskosten erhob der Bund in den beiden Weltkriegen die Kriegsgewinnsteuer. Als steuerbarer Kriegsgewinn galt der Betrag, der den Reinertrag in den Vorkriegsjahren überstieg. Die erste Kriegsgewinnsteuer warf insgesamt einen 670 Millionen Franken für den Bund und 62 Millionen für die Kantone ab. Während des Zweiten Weltkrieges gab es eine ganze Reihe weiterer Sondersteuern: 1940 und 1942 wurde eine spezielle Vermögenssteuer erhoben, Anfang 1941 trat die «Wehrsteuer» in Kraft. Im Herbst 1941 kam die Warenumsatzsteuer für Güter des täglichen Bedarfs; die WuSt wurde 1995 durch die Mehrwertsteuer abgelöst. Nach wie vor in Kraft ist die Verrechnungssteuer auf Kapitalerträge, die 1943 geschaffen wurde. 2019 brachte sie dem Bund 8,3 Milliarden Franken ein.
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