Jahrhundertelang verschleierte die katholische Kirche sexuellen Missbrauch
Das Kreuz mit den Pädophilen

Das globale Ausmass des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche ist gross, die Dunkelziffer riesig. Betroffen sind Mädchen und Knaben, die jüngsten wohl drei Jahre alt, die Mehrheit zwischen elf- und 14-jährig. Heute gehört die Schweizer Kirche zu den fortschrittlichsten.
Publiziert: 17.02.2017 um 13:22 Uhr
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Aktualisiert: 14.09.2018 um 21:00 Uhr
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Bernard Law war Kardinal von Boston (USA). Nachdem er Hunderte Missbrauchsfälle unter den Teppich gekehrt hatte, musste er abtreten.
Foto: Jim Bourg
Peter Hossli

Liebe deinen Nächsten wie dich selbst: Jesus war Nächstenliebe so wichtig wie Gottesfurcht. Manch einer in der katholischen Kirche verstand die Botschaft aber falsch. Priester, Bischöfe, Mönche vergingen sich während Jahrhunderten an Kindern und Jugendlichen.

Was die Kirche wusste. Doch statt Täter zu belangen und der Justiz zu überstellen, wurden sie in Klöster abgeschoben. Wo man über sie den Mantel der Verschwiegenheit ausbreitete. Bescheid wussten die Päpste. Im Vatikan gewährten sie pädophilen Priestern Unterschlupf.

Die Öffentlichkeit erfuhr lang nichts

Das Ausmass des sexuellen Missbrauchs ist global, die Dunkelziffer riesig. Betroffen sind Mädchen und Knaben, die jüngsten wohl drei Jahre alt, die Mehrheit zwischen elf und 14. Die meisten schwiegen, aus Scham und aus Angst vor ihren Peinigern. Nur die Kirche weiss, wie viele kriminelle Kleriker sie aus dem Verkehr gezogen hat.

Öffentlich wird der Missbrauch erst Mitte der 90er-Jahre. 1994 tritt der irische Ministerpräsident Albert Reynolds (1932–2014) zurück. Er hatte einen der Pädophilie verdächtigten Priester vor der Strafverfolgung geschützt. Fünf Jahre später entschuldigt sich der irische Ministerpräsident Bertie Ahern (65) bei irischen Opfern.

Eine Wende bringen Recherchen in den USA. Der «Boston Globe» deckt 2002 auf, wie die Kirche jahrzehntelang Hunderte von Tätern geschützt hatte. Der Kardinal von Boston, Bernard Law (85), muss zurücktreten, da er die Delikte verschleierte. Als einfacher Priester kommt er in Rom unter.

Vier Prozent aller amerikanischen Priester werden des Missbrauchs beschuldigt. Tausend US-Opfer klagen. Bis 2010 werden sie mit rund zwei Milliarden Franken entschädigt.

Der Papst entschuldigt sich

Papst Benedikt XVI. (89) trifft 2008 in den USA Missbrauchsopfer. Per Hirtenbrief entschuldigt er sich bei den Opfern in Irland. Ab 2010 melden sich in Deutschland Opfer in grosser Zahl. Am jesuitischen Canisius-Kolleg in Berlin soll es in den 70er- und 80er-Jahren zu 600 sexuellen Übergriffen an Schülern gekommen sein. An der Klosterschule Ettal in Bayern haben 15 Mönche 100 Schüler sexuell missbraucht.

Die deutsche Kirche verzeichnet viele Austritte. Kanzlerin Angela Merkel (62) beruft einen runden Tisch ein. Auf dem Petersplatz in Rom bittet Papst Benedikt XVI. am 16. Juni 2010 alle Opfer um Vergebung. Im September trifft sich der deutsche Papst mit deutschen Opfern.

Als Franziskus (heute 80) 2013 den Heiligen Stuhl besteigt, beruft er eine Kinderschutzkommission ein. Gemäss Walter Müller, Sprecher der Schweizer Bischofskonferenz, gibt es «keine gesamtschweizerische Untersuchung» zu sexuellem Missbrauch.

Einzelne Klöster und Orden untersuchen ihre Geschichte. Am Kloster Einsiedeln soll es in 65 Jahren 40 Opfer gegeben haben. Die Taten verübten 15 Mönche. Das Kloster Fischingen im Kanton Thurgau entschuldigt sich 2014 für sexuelle Übergriffe im Heim St. Iddazell in den 70er-Jahren.

Bischofskonferenz gibt Richtlinien zum Kinderschutz heraus

Das Bistum Freiburg lässt untersuchen, wie viele Knaben im katholischen Internat Marini in Montet FR zu Opfern der Geistlichen wurden. Nachweislich 21 Buben und männliche Jugendliche wurden dort zwischen 1932 und 1955 missbraucht.

Früher als andere Kirchen geht die Schweizer Bischofskonferenz das Problem an. Bereits 2002 beruft sie ein Gremium ein. Am 5. Dezember 2002 veröffentlichte es erste Richtlinien für die Diözesen zu sexuellen Übergriffen in der Seelsorge. Bis 2014 wurden die mehrmals überarbeitet.

«Heuten haben die Schweizer Katholiken vermutlich die fortschrittlichsten Richtlinien der Welt», sagt Kommunikationsberater und Ex-CVP-Generalsekretär Iwan Rickenbacher (73). Bis Ende 2015 war er Mitglied des Fachgremiums Sexuelle Übergriffe im kirchlichen Umfeld.

Ausdrücklich bitten die Bischöfe die Opfer um Entschuldigung. Sie bedanken sich bei ihnen. Die «Begegnungen mit Opfern öffnen uns die Augen für eine Tragik, die viel zu lange tabuisiert war», so das Vorwort der Richtlinien. Die Kirche verbietet jegliche Form von sexueller Ausbeutung und sexueller Belästigung. Nicht nur körperliche Gewalt, sondern Gesten und sexuell gefärbte Äusserungen sind verboten.

Zur Ausbildung der Kirchenleute gehöre fortan «eine fundierte Auseinandersetzung mit dem Thema Sexualität und Keuschheit». Ständig soll die Kirche das Personal diesbezüglich fortbilden. Ein Fachgremium, bestehend aus Kirchenleuten, Psychologen, Juristen und Sozialarbeitern sorgt für die Einhaltung der Richtlinien.

Innerklösterliche Solidarität einschränken

Besonders wichtig: «Bei jedem Fall eines sexuellen Übergriffs im kirchlichen Umfeld muss sowohl ein kirchliches wie ein weltliches Strafverfahren anvisiert werden.» Wobei sich beide Ebenen ergänzen und «parallel in Gang gesetzt werden». Was wichtig sei, betont Rickenbacher. «Bei sexuellem Missbrauch besteht in einer Klostergemeinschaft die Gefahr, dass die Solidarität überwiegt und Täter nicht unverzüglich den Gerichten überstellt werden.»

Die Bischofskonferenz informiert. So seien zwischen 2010 und 2015 insgesamt 223 Fälle sexuellen Missbrauchs bekannt geworden. Es existiert zudem ein Genugtuungsfonds in der Höhe von 500'000 Franken. Daraus werden ältere Opfer entschädigt. Bei jüngeren Betroffenen greift die Opferhilfe.

Heute sei die katholische Kirche der Schweiz «kein Hort von Pädophilen», betont Rickenbacher. Sie habe Konsequenzen gezogen. «Man schaut nicht mehr weg, es gibt unabhängige Gremien, Opfer können sich bei Fachstellen melden oder sich direkt an die Gerichte wenden.»

Nicht genug ist das der Zürcher Nationalrätin Natalie Rickli (40). «Zwar hat sich die katholische Kirche mit der Problematik auseinandergesetzt und Richtlinien erlassen», so Rickli. Sie setzt sich für harte Strafen für Pädophilie ein. «Eine Null-Toleranz-Strategie bei pädokriminellen Straftaten ist das aber leider nicht.»

Nicht nachvollziehen kann sie, dass eine Strafanzeige nur erstattet werden soll, wenn sich die «nahe Gefahr von pädophilen Wiederholungstaten nicht auf andere Weise bekämpfen lässt», wie in den Richtlinien steht. Um glaubwürdig zu werden, «sollte die katholische Kirche Pädokriminelle konsequent anzeigen und diese auch nicht irgendwo in einem abgelegenen Kloster unbehelligt untertauchen lassen».

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