Immer mehr Erwachsene von einer Kesb-Massnahme betroffen
«Ich will wieder nach Hause»

Seit 2011 hat sich die Zahl der Erwachsenen, die zwangsweise in eine psychiatrische Klinik eingewiesen werden, fast verdoppelt. Einer von ihnen ist Rene S*.
Publiziert: 15.04.2018 um 12:59 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2018 um 16:37 Uhr
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Rene S. glaubt, mit ein bisschen Unterstützung sein Leben wieder in den Griff zu kriegen.
Foto: Valeriano Di Domenico
Cyrill Pinto

Ende Januar wurde Rene S.* in die Psychiatrische Universitätsklinik Zürich eingewiesen. Eigentlich hatte der 54-jährige IV-Rentner seine Ärztin bloss wegen eines Rückenleidens gerufen. Doch die Medizinerin steckte ihn in die Anstalt – wie es in den Akten heisst: wegen Verwahrlosung. Die Erkrankung hatte dazu geführt, dass sich in der Wohnung von S. die Entsorgungssäcke stapelten.

«Das war nicht meine Schuld», sagt S., «ich bat meinen Beistand mehrmals um Hilfe.» Nach zwei Monaten in der Psychiatrie möchte S. allmählich wieder in seine Wohnung zurück. Doch die Erwachsenenschutzbehörde der Stadt Zürich (Kesb) will ihn stattdessen in eine Einrichtung für betreutes Wohnen einweisen.

Fachleute sind besorgt

In der Schweiz unterliegen fast 90'000 Menschen einer der Massnahmen im Erwachsenenschutz, zu denen auch die Stellung eines Beistands gehört. Seit den 90er-Jahren nahm diese Zahl um mehr als 36'000 Personen zu. Auffallend ist, dass es zwischen den Kantonen grosse Unterschiede gibt: In der Westschweiz zum Beispiel sind überdurchschnittlich viele Erwachsene von einer solchen Massnahme betroffen.

Auch die Zahl der Personen, die notfallmässig in die Psychiatrie eingewiesen werden, nimmt stetig zu: Seit 2011 hat sie sich auf fast 15'000 verdoppelt, wie die «Wochenzeitung» Anfang April öffentlich machte. Auch Rene S. ist ein Opfer dieser sogenannten «Fürsorgerischen Unterbringung» (FU).

Fachleuten macht die steigende Tendenz Sorgen: So bemängelt Alex Sutter vom Verein Humanrights, dass es in der Schweiz keine einheitlichen Kriterien für die Anordnung von Massnahmen im Erwachsenenschutz gebe. Zudem dürften in den meisten Kantonen auch Nicht-Fachleute eine Massnahme verordnen.

«Damit ist der Willkür Tür und Tor geöffnet», sagt Sutter. Die Einweisung in eine psychiatrische Klinik sei in jedem Fall eine einschneidende Massnahme: «Die Regeln dafür müssen klar sein.» Er fordert, dass nur speziell ausgebildete Fachärzte eine fürsorgerische Unterbringung anordnen dürfen. Wichtig sei auch, dass Betroffenen eine Vertrauensperson zur Seite gestellt wird, wie dies etwa im Tessin bereits Praxis ist. In den meisten anderen Kantonen indes wird darauf aus Kostengründen verzichtet.

Pro Mente will Tessiner Modell für die Deutschschweiz

Schutzmassnahmen pro Kanton
Foto: Blick Grafik

Pro Mente Sana will das nun ändern. Die Stiftung setzt sich für Anliegen von Menschen mit einer psychischen Beeinträchtigung ein. Sie fordert, das Tessiner Modell auch in der Deutschschweiz anzuwenden. Die stellvertretende Geschäftsführerin von Pro Mente Sana, Anita Biedermann, kündigt gegenüber SonntagsBlick ein Pilotprojekt im Kanton Zürich an: «Wir suchen zurzeit Stiftungen, die bereit sind, einen Versuchsbetrieb zu finanzieren.»

Rene S. muss ohne eine Vertrauensperson zurechtkommen, doch er hat einen Anwalt, den St. Galler Roger Burges. Einen Entscheid des Bezirksgerichts Zürich, nach dem S. in eine Einrichtung des betreuten Wohnens eingewiesen werden soll, hat er vor dem Zürcher Obergericht bereits angefochten.

Die für S. zuständige Kesb möchte aus Datenschutzgründen nicht auf seinen Fall eingehen, antwortet jedoch generell: «Allein aufgrund der Vermüllung einer Wohnung wenden wir keine Zwangsmassnahmen an. Die Situation muss für die betroffene Person oder ihr Umfeld gefährdend sein», so der Zürcher Kesb-Chef Michael Allgäuer.

«Ich brauche vielleicht Unterstützung durch eine Spitex oder jemanden, der mir beim Aufräumen meiner Wohnung hilft», räumt S. ein. Aber in diesem Punkt bleibt er kategorisch: «Ich will nicht in ein betreutes Wohnen! Ich will nach Hause.»

*Name der Redaktion bekannt

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